Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer
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Besonders verbunden fühlt er sich dem Dichter und Erzähler Jan Skácel. Beide spüren die Seelenverwandtschaft in ihrer Dichtung, in ihrem Schweigen, in ihren Leben. Skácel formt Verse, die auch von Reiner Kunze sein könnten, – und die es in der Nachdichtung werden: „Mit einemmal entsann ich mich / wo wir zu hause das salz haben.“43 Skácel dichtet und Kunze überträgt:
KLEINE BAHNHÖFE
Gegenden gibt’s, da winken die kinder den zügen noch.
Immer ist in uns ein hauch von traurigkeit
auf kleinen bahnhöfen,
wo niemand wartet.
Plötzlich ist in uns die weiße seele des holunderbaums,
plötzlich ist in uns zu viel vom menschen.44
Ihre Begegnung ist ein fruchtbringender Glücksfall. Peter Handke schwärmt in seiner Laudatio für den Petrarca-Preisträger Jan Skácel 1989 von der „märchenhaft glücklichen Übersetzung“ durch Reiner Kunze.
Wie Kunze wächst der elf Jahre ältere Skácel in ärmlichen Verhältnissen auf - in einem Dorf in Mähren. Wie Kunze besitzt auch Skácel eine ausgeprägte Sensibilität für die Natur. Während des Zweiten Weltkrieges wird er als Zwangsarbeiter zum Tunnelbau nach Österreich deportiert. Nach dem Krieg studiert Skácel in Brünn, er wird Literaturredakteur beim Rundfunk und von 1963 bis zu ihrem Verbot 1968 bestimmt er als Chefredakteur das Profil der renommierten Literaturzeitschrift Host do domu (Der Gast ins Haus).
Ähnlich wie Reiner Kunze überträgt auch Jan Skácel das Erlebte assoziativ und bildintensiv ins Gedicht. Viele seine Metaphern spielen mit der Naivität und reichen zugleich in das Elementare hinein, in Zeit und Sein, Sprachlosigkeit und Vergängnis.
KINDHEIT
Goldne goldne brücke
Wer hat sie denn zerbrochen
Gegen abend wuschen die mütter uns die füße
heute würde ich dieses wasser trinken
Und wie heftig wir schliefen
(…)45
In seinen Versen verwandeln die Dinge der Natur sich auf überraschende Weise. Da wird die „distel, das königszepter voller blattläuse“ und „im quaken der frösche / grünte die nacht“, oder nach einem lange versprochenen Aufbruch werden die „wolken, naßkalt wie gesprenkelte forellen, / schnellen über unsere köpfe. // Und wir geben diesem wind den namen Jaromír …“. Besorgnis um das Dasein, die Menschen eingeschlossen, macht die Aura der Verse dieses Dichters aus, egal ob sie von Heiterkeit oder von Melancholie getragen sind.
Jan Skácel und Reiner Kunze verbindet lebenslang eine herzliche Freundschaft. In einem seiner langen Briefe schreibt der Brünner Freund: „Wirst Du wieder einmal zu uns kommen? Briefe sind ein zu dünnes eis, sie tragen nicht alles, womit man einen fluss überqueren möchte.“46
Nach 1968 kann Jan Skácel seine Gedichte nur noch im Ausland oder im Samisdat veröffentlichen. Die tschechischen Kulturverhinderer erreichen ihr Ziel. Als er 1989 stirbt, ist er den jüngeren tschechoslowakischen Lesern nahezu unbekannt.
1961 veröffentlicht Reiner Kunze im DDR-Verlag „Volk und Welt“ seinen ersten Band tschechischer und slowakischer Nachdichtungen unter dem Titel Der Wind mit Namen Jaromír nach einer Gedichtzeile Skácels. Dieser kleine Band verschafft ihm Hochachtung unter tschechoslowakischen Kollegen. Ihr Land ist ihm da längst zur Wahlheimat geworden. Durch Elisabeth und die Schriftstellerfreunde findet er nach dem Tiefpunkt Leipzig für sich einen neuen Sinn.
Und er ist herzlich willkommen. Milan Kundera schreibt 1964 in den Literární noviny, Kunze sei der slawischste Deutsche, den er kenne. Welch ein Kompliment! Wann immer er die Möglichkeit erhält, fährt er auf Besuch:
(…)
In den nächten, da das visum abläuft
mit dem ticken meiner uhr,
brechen die alten wunden auf in mir, kreisen die
gedanken, sich formierend
für die rückkehr in die unbewältigte
vergangenheit …
(…)47
Einmal bekommt er einen schweren Asthmaanfall in der schwerst belasteten Luft von Aussig. Er muss ins Krankenhaus, und die Ärzte verlängern den Aufenthalt mit einer mehrwöchigen Krankschreibung über das abgelaufene Visum hinaus. Er dankt ihnen auf seine Weise:
ENTSCHULDIGUNG
(den waschfrauen des bezirkskrankenhauses Aussig
an der Elbe)
Seit mir das chemische konglomerat über der stadt,
physikalisch durchsetzt mit flugasche und
lokomotivenruß
und unlängst vom wochenblatt SEVER gereinigt
geboten
in dem begriff „luft“,
schwarz in der lunge verblieb
(nebst einem schock nebel über der Elbe),
werde ich reichlich beschenkt
mit der weisheit der ärzte, den mühen der
schwestern,
(…)
Das bettuch mit den schlimmen tintenflecken im
haufen der abgezogenen wäsche
ist meines.48
Reiner Kunze nutzt die Aufenthalte für Gespräche, für die Arbeit an Nachdichtungen und als freier Mitarbeiter für tschechoslowakische Literaturzeitschriften:
Wir haben nie geschwätzt. Es ging immer um Literatur, um Übersetzungen, um die einzelnen Texte und um die Frage: Was machen wir? Wie können wir helfen? Es war eine solidarische Gemeinschaft. Und dann erschien „Iwan Denissowitsch“. Die ČSSR war das einzige Ostblockland, in dem dieses Buch von Solschenizyn veröffentlicht wurde. So habe ich es kennengelernt. Inzwischen ging es auch um das Politische. Was wir da alles besprochen haben, Nächte haben wir so verbracht. Manchmal haben wir auch einen Ausflug gemacht, mit Ludvík Kundera, oder wir haben bei ihm lange Abende in seinem Riesengarten gesessen, haben „Špekáčky“, das sind fette, dicke Würstchen, ins Feuer gehalten. Und immer ging es um Literatur oder um die politische Situation.
Was wesentlich ist, und was oft nicht unterschieden wird: In der Opposition der Intellektuellen