Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer
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Im Januar, das weiß ich noch ganz genau, kam ein Brief, darin das Buch mit Widmung. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, dass der Autor mir sein Buch schickt. Ich setzte mich spontan hin und schrieb ihm, wie ich vom Nachtdienst spät heimkam, müde war und plötzlich sein Buch hier fand. Das war der Anfang eines langen Briefwechsels.
Elisabeth Littnerovás Vater stammt aus Iglau (Jihlava), einer deutschen Sprachinsel in Mähren, südwestlich von Brünn (Brno). Dorthin hatte einst der böhmische König deutsche Bergleute für den Silberbergbau angeworben. Ihre Mutter ist eine Tschechin aus Wien.
Das Mädchen Elisabeth wird in Znaim (Znojmo), Südmähren, geboren. Ab 1937 wird auch Südmähren von Hitler annektiert, und Elisabeth besucht deutsche Schulen. Ihr Vater kommt als Wehrmachtssoldat nach Russland und gilt schließlich als vermisst. Als 1945 die wilden Vertreibungen beginnen, beschützt die Familie ein tschechischer Onkel, ein katholischer Priester in der Nähe von Znaim. Ende 1946 kehrt der Vater aus Russland zurück und will mit seiner Familie nach Österreich auswandern. Doch die Behörden eröffnen ihm, als Deutscher solle er sich scheiden lassen, dann könne er gehen, seine tschechische Frau und die Kinder müssen bleiben. Es ist die Zeit der Bẹneš-Dekrete. Gemischtehen sind der Führung ein Dorn im Auge. Der Vater entscheidet sich, bei seiner Familie zu bleiben, leidet in der ČSSR aber zeitlebens unter seiner Ausgrenzung als Deutscher.
Elisabeth darf Medizin studieren und wird als Fachärztin für Kieferorthopädie an die Poliklinik von Aussig delegiert. In ihrem Inneren, sagt sie, fühlte sie sich immer der deutschen Kultur verbunden, sie habe deutsche Bücher gelesen und auf ihrem uralten Radio deutsche Sender gehört.
In ihren Briefen erzählen Elisabeth Littnerová und Reiner Kunze sich ihre Leben. Besuchen dürfen sie einander nicht. Die Grenze ist für Privatpersonen geschlossen. Mit Elisabeths Hilfe entdeckt Reiner Kunze die tschechische Literatur.
Einem ihrer ersten Briefe hatte die junge Ärztin Gedichte des von ihr sehr geschätzten Vít Obrtel beigelegt. Reiner Kunze fragt nach weiteren Dichtern. Sie übersetzt ihm interlinear Jan Skácel, Miroslav Holub und Vladimír Holan, Ludvík und Milan Kundera. Diese Übertragungen vermitteln ihm eine völlig neue Perspektive. Auch das sind Gedichte aus einem sozialistischen Land, aber aus ihnen sprechen Sichtweisen, auch in der politischen Selbstverortung, wie er es aus der DDR nicht kennt. Reiner Kunze beginnt nachzudichten:
Milan Kundera (geb. 1929)
DICHTER SEIN HEISST
bis ans ende gehen
Ans ende der zweifel
ans ende des hoffens
ans ende der leidenschaft
ans ende des verzweifelns
Dann erst zusammenzählen
Eher nicht Eher nicht
Sonst kann’s geschehen
die summe des lebens
kommt dir lächerlich klein heraus
Und du taumelst wie ein kind
ewig nur im kleinen einmaleins
Dichter sein heißt
immer bis ans ende gehen37
Dieser Kundera spricht Kunze aus der Seele. Durch Elisabeths Übertragungen entdeckt er in der Entlegenheit Böhmens und Mährens sein ureigenstes lyrisches Naturell. Das Nachdichten gewinnt für ihn einen ganz eigenen Reiz. „Es gibt Dichter“, wird er später Karl Dedecius zitieren, „die selbst Hervorragendes geschaffen haben, aber niemals imstande waren, nicht einmal für einen Augenblick, aus der eigenen Haut, aus dem eigenen Stil, aus der eigenen Vorstellung zu schlüpfen. Solchen Dichtern gelingen in der Regel Übersetzungen nicht.“38
So ein Dichter ist er nicht. Sein Ehrgeiz ist geweckt. Er hat keine Schwierigkeiten, sich vom eigenen Stil zu lösen, ganz in das fremde Gedicht hineinzulauschen, es abzuklopfen auf Harmonien und Brüche, auf Wortspiele, korrespondierende Bilder, auf Doppelbödigkeiten. Wo immer möglich, sucht er den Dichter in seiner eigenen Welt auf, um ihm zuzuhören, um ein Gefühl für ihn zu bekommen. Zugute kommt ihm, er ist ein Arbeiter am genauen Wort bis zu dessen Perfektion, dazu versehen mit einem sicheren Sprachgefühl.
So entdeckt er auch sehr bald, welche sinnliche Vielfalt in der tschechischen Sprache und in ihrer Poesie liegt. Zugleich erkennt er ihre Grenzen in der Abstraktion. Eine Symbiose aus der Sinnlichkeit der tschechischen Sprache und dem Bedeutungsreichtum der deutschen Sprache erscheint ihm verführerisch genug, um sich in die tschechische Sprache zu vertiefen. Er will nichts Geringeres, als die Vorzüge beider Sprachen in Nachdichtungen und in der eigenen Dichtung zusammenführen.
Nachdichten heißt für Reiner Kunze, im anderen das Eigene schaffen, und das Andere zugleich bewahren. In einer seiner Münchener Poetik-Vorlesungen 1988/89 formuliert er es so: „Nachdichten heißt, dasselbe zu schaffen, das ein anderes ist, ein Eigenes, das ein Fremdes bleiben muß.“39 Und mit der ihm eigenen Bescheidenheit fügt er hinzu: „Nachdichten und einander den eigenen Vers hinschenken – das ist der Internationalismus der Dichter.“40
Ein Jahr lang kennen sich Reiner Kunze und Elisabeth Littnerová aus Briefen und von je einem Foto her. An einem Nachmittag meldet Reiner Kunze vom Apparat eines befreundeten Ehepaares aus ein Telefongespräch an. Nachts um halb drei kommt die Verbindung zustande und er fragt Elisabeth, ob sie seine Frau werden wolle. Ihre Antwort: „Ja.“ Da sind sie sich noch nicht ein einziges Mal begegnet. Als Medizinerin, sagt Elisabeth Kunze, habe man das Glück, viele Menschen zu kennen. Einer ihrer Patienten leitet ein „Theater der Poesie“. Es ist eine der Stätten, an denen Lyriker und begabte Laien Gedichte vortragen. Sie fragt ihn, ob es nicht möglich sei, einen ostdeutschen Autor einzuladen. Über diesen Weg kommt Reiner Kunze schließlich für drei Tage nach Aussig, in eine Industriestadt mit ungeheurer Luftbelastung. Die Atmosphäre, den allgemeinen Zustand in dieser vom Verfall gezeichneten Stadt und sein Empfinden fasst er in ein Gedicht:
SPÄTSOMMER
Die menschen ducken sich,
wie die vögel sich ducken in den bäumen
unter einer sonnenfinsternis:
(…)
Und der berg Milešovka, zu dem wir aufbrachen wird sinnlos
Er senkt sich zwischen das wort ich und das wort
liebe und das wort dich,
die ich endlich sage, ohne von der haut zu
sprechen,
und die nun keinen satz ergeben
(…)41
Für das Jahr 1961 vereinbart Reiner Kunze mit dem Verlag „Volk und Welt“