Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer
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Das hat mich in meiner Kindheit sehr belastet. Eine Folge könnte gewesen sein, dass ich in meiner Isolation angefangen habe, mir Geschichten auszudenken und sie aufzuschreiben. Das war der nächste Fehler: Meine Hausaufsätze waren viele Seiten länger als die der anderen Schüler, und der Lehrer hielt sie der Klasse vor und sagte: „Schaut euch mal an, was der Reiner macht.“ Das war natürlich wieder ein Grund zur Bestrafung.
Ausgrenzung und Alleinsein sind sicher nicht der entscheidende Grund, weshalb der Junge beginnt, seine Fantasien in Geschichten, manchmal auch in Reimen, auf Papier zu bringen, besonders wenn er wochenlang mit Verbandsmull um Arme und Beine zu Hause liegt. Er entdeckt das Schreiben und beginnt in Assoziationen zu denken. Diese Begabung, die ihn später zum Künstler macht, ist bereits zeitig ausgeprägt:
Dass ich als Kind schon diese seltsame Denkweise gehabt habe, zeigt ein winziges Erlebnis. Ich war zehn Jahre alt war, es herrschte Krieg und wir hungerten. Meine Mutter suchte an den Weidezäunen Brennnesseln, um am Abend Brennnesselsuppe kochen zu können. Es war Frühherbst, ich setzte mich an einen Hang und beobachtete die Schwalben, die sich auf den Stromleitungen zum Abflug sammelten. Damals gab es unglaublich viele Schwalben. Ich war fasziniert, und plötzlich sagte meine Mutter: „Was guckst du so?“ Ich zeigte auf die Schwalben und sagte: „Stacheldraht.“ Mit Entsetzen im Gesicht kam sie ganz nahe an mich heran und sagte: „Aber Reiner, das ist doch kein Stacheldraht. Das sind doch Schwalben.“ Darauf ich: „Ich weiß schon.“ Erst Jahrzehnte später habe ich begriffen, dass meine Mutter dachte, ich hätte den Verstand verloren. Dabei war es nur ein Anderssehen, eine Assoziation.
Welche zuvor gehabten Erlebnisse sich mit der Beobachtung der Schwalben auf dem Draht zum Bild vom „schwalbenstacheldraht“ verknüpfen, wird wohl ein Rätsel bleiben.
Auf dem Weg zur Schule kommt er jeden Tag an einer Gärtnerei vorbei. Dort trifft er manchmal den Herrn Schmalfuß, einen älteren Juden. Eines Tages hört er, wie Frauen sich auf der Straße zuflüstern, den alten Schmalfuß habe man „abgeholt“. Ohne ermessen zu können, was „abgeholt“ bedeutet, spürt der Junge das Unheimliche hinter diesem Wort. Es ist ein Wort wie „schwalbenstacheldraht“.
KINDHEITSERINNERUNG
Wenn die schwalben sich zum abflug sammelten,
trennte zwischen den stromleitungsmasten
schwalbenstacheldraht
das dorf vom himmel
Und die menschen waren
gefangene, verurteilt
zum winter
(…)6
Eine politische Meinung, sagt Reiner Kunze, hörte er zu Hause nie. Er sei auch nie politisch beeinflusst worden:
Als Hitler 33 an die Macht kam, haben meine Eltern das garantiert nicht politisch reflektiert, sondern nur: „Der Führer hat Arbeit geschaffen.“
Irgendwann beim Bier hat einer seiner Arbeitskollegen meinen Vater überredet, in die Partei einzutreten: „Der Führer hat uns Arbeit verschafft.“
Wie stark mein Vater in der nationalsozialistischen Ideologie involviert war, sieht man daran:
Er bekam regelmäßig eine Zeitschrift geschickt, die hieß „Der politische Leiter“. Die Zeitschrift verschwand so, wie sie geschickt wurde, im Nachtkästchen. Er hat niemals auch nur eine Seite aufgeschlagen. Diese Zeitschrift hatte ein schönes festes Umschlagpapier. Eines Tages habe ich mir aus einem Umschlag ein Flugzeug, eine Schwalbe, gebaut und sie auf der Straße fliegen lassen. Als mein Vater von der Schicht kam, nahm er die Schwalbe und gab mir eine Ohrfeige. Es war die einzige Ohrfeige, die ich von ihm je bekommen habe: „Dass du das nie wieder angreifst!“ Es war vermutlich ein Angstreflex.
Mein Vater wurde 1939 eingezogen und kam 1945 als Gefreiter aus dem Krieg zurück.
An der Volksschule erlebt Reiner Kunze Antreten, Trommeln, Fanfaren, Hakenkreuzfahnen. Die Appelle und Aufmärsche gehören dazu. Wie alle anderen ist er in der Hitlerjugend.
Ich ging in Oelsnitz in die Volksschule. Dort habe ich zum ersten Mal erlebt, was eine Generation später Utz Rachowski auf der Oberschule in Reichenbach erlebte – nur mit anderen Uniformen: Jeden Montag Fahnenappell. In dem Buch „Die wunderbaren Jahre“ habe ich darüber geschrieben.
Reiner Kunze sagt, eigentlich sei er kein besonders guter Schüler gewesen, weder im Rechnen noch im Sport. Hervorgetan habe er sich mit dem Sammeln von Altpapier und Buntmetall, wozu die Schüler aufgefordert waren. Wer eine bestimmte Menge zusammenbrachte, bekam ein Heftchen mit einem der Grimms Märchen. Für diese Heftchen zog er mit dem Handwagen von Haus zu Haus. So, sagt er, habe er sich seine erste kleine Bibliothek zusammengesammelt.
Einer der Neulehrer, selbst noch Lernender, wird in der sechsten Klasse sein Deutschlehrer. Er ist beeindruckt von den Aufsätzen und Versen, die sein Schüler schreibt, und er beschließt, ihn in die achte Klasse vorzuversetzen, damit er schneller auf die Oberschule kann. Was er offenbar nicht bedenkt, sind die mäßigen Rechenleistungen seines Zöglings. Und so nimmt er den Jungen nach Unterrichtsschluss ins Lehrerzimmer mit und versucht, ihm die Prozentrechnung zu erklären: Er solle annehmen, fünf sei gleich hundert. Aber der Schüler ist auf der Hut: Fünf sei doch viel weniger als hundert. Als der Lehrer erwidert, alles könne gleich hundert sein, auch eine Million, lacht der Schüler schallend.
Die Eltern denken nicht an höhere Schulbildung. Der Junge soll etwas Ordentliches lernen, einen Beruf, der gebraucht wird. Schuster werden immer gebraucht. Und so vereinbart der Vater eine Schuhmacherlehre für ihn. Der Sohn soll versorgt sein, soll nicht arbeitslos werden wie er in der großen Krise, wenn wieder eine Krise kommt. Und er soll nicht hungern müssen wie in den Jahren, die Reiner Kunze so in Verse fasst:
NACH DEM KRIEG
Die bauern hackten die abgeernteten felder nach,
bis die furchenhügel
gräben waren
Fremden, die dem acker
sich zu nähern wagten, zeigten sie
die pferdepeitsche
Die hacken verborgen im unterholz,
warteten wir im wald,
bis über den niederbrennenden kräutrichfeuern
der mond aufging
und unserem hunger
eine unerreichbare
in heißer asche aufgeplatzte
kartoffel leuchtete7
Sein Lehrer setzt sich ein, und der Junge bekommt die Chance, in die Aufbauklasse an die Oberschule nach Stollberg zu gehen. Der Vater ist dagegen, doch der Lehrer ringt ihm die Erlaubnis ab. Bevor der Sohn jedoch auf die weiterführende Schule darf, muss er eine Aufnahmeprüfung bestehen:
An der Tafel stand eine Rechenaufgabe mit einem Buchstaben. X oder Y ist gleich … Da habe ich abermals gelacht und in der heiligen Prüfungsraumstille ausgerufen: