Ketzerhaus. Ivonne Hübner
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Zu Hause war kein Platz für Müßiggang. Zu Hause half Elsa der Mutter bis zum Umfallen mit der Ernte von Kräutern und dem Binden von Amuletten, die unter den Frauen verschenkt wurden. Jedes Amulett hatte seinen Zweck. Kranke und Schwangere waren Mutters häufigste Besucher. Manchmal kamen auch Frauen mit Liebeskummer, die hartnäckigste, wenn auch harmloseste aller Krankheiten, wie Mutter es nannte.
Elsa rollte sich auf dem Lehnstuhl zusammen und lauschte lange dem Klacken Glas auf Glas, das Andres’ Perlen von sich gaben, wenn sie in der Rinne aneinanderstießen.
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Der Papst will und kann keine Strafe erlassen,
außer denjenigen, die er nach seinen eigenen oder
nach den Satzungen Ermessen auferlegt hat.
Das Dach der Mälzers war so weit in Schuss gebracht, dass die Kinder zu ihren Eltern zurückkehren konnten.
Die Finger der Mutter flochten behände eine Strähne von Siegtrauts Jungfrauenhaar zu einem Faden und um einen Mondstein herum, den eine Kundin mit anhaltenden Frauenleiden und Kopfschmerzen bestellt hatte. Für derlei Bestellungen musste das Haar der Töchter herangezogen werden. Katharina verstand, den Preis zu staffeln: Elsas Haar war am billigsten. Wegen der Farbe. Katharina Mälzers Finger hielten nur inne, wenn Johannes im schroffen Tonfall seine Tochter im Berichten unterbrach. Er wollte jede Einzelheit der Hinterthurschen Brauweise erfahren, musste aber feststellen, dass seine vom Vater und Vatervater erlernte Kunst sich gar nicht von der des Konkurrenten unterschied. Was war also Orwids Geheimnis? Vielleicht, so überlegte Elsa, waren die kleinen Details, über die ihr Vater die Nase rümpfte, der Schlüssel zu Orwids Erfolg? Sie würde sich hüten, ihre Beobachtung laut auszusprechen.
„Mich soll die Blindheit schlagen, wenn dein Herr Vater eines Tages seinen Jähzorn überwindet“, murmelte Katharina Mälzer, als Johannes nicht in Hörweite war, und schickte die Kinder zu Bett.
Elsas Vater schrubbte die Kessel und Sudpfannen nicht. Wie es seine Ungeduld nun einmal gebot, streckte er weiterhin den Sud mit zu kurz gekeimter Gerste und dem Tollkraut, da konnte die Hölle zufrieren, bevor er davon abkam, weil er nicht ahnen konnte, dass zweitägiges Mälzen dem Gebräu sein bitterherbes Aroma vermachte. Eintägiges Mälzen jedoch das Ganze wie Pisse schmecken ließ. Sein Produkt blieb billig, die Familie kam über die Runden.
Wochen strichen belanglos an ihr vorbei, bis Elsa all ihren Mut zusammennahm und die Wanderung auf die andere Seite des Rittergutes antrat, um der Familie Hinterthur einen Besuch abzustatten. Sie hatte gut anderthalb Stunden Fußmarsch Zeit, sich ein Gespräch zu überlegen und hatte zu diesem Zwecke der Mutter ein Körbchen roter, saftiger Äpfel aus der Ernte abgeluchst, die sie der Reinhildin überbringen wollte. Für die Bewirtung im Spätsommer.
Elsas Dank wurde von Reinhilde Hinterthur formell angenommen. Vom Meister Orwid wurde sie über das Befinden der Eltern ausgefragt, von Andres kaum eines Blickes gewürdigt, aber von Jost beäugt, als wäge er einen Schabernack ab, den sie beide treiben konnten. Elsa wollte nicht länger als nötig verweilen, und obschon es sich nicht schickte, dass Mädchen und Buben Zeit miteinander verbrachten, es sei denn, sie waren Geschwister und gingen einer nutzbringenden Arbeit nach, erlaubte Meister Orwid Jost und ihr, sich ins Wäldchen hinter dem Hof zu verdrücken, um zu spielen. Spielen hatte es in Elsas Wortschatz bislang nicht gegeben. Höchstens heimlich, vor dem Zubettgehen und in den wenigen Augenblicken, die ihr manchmal blieben, wenn sie eine Aufgabe erledigt hatte und die Mutter noch keine neue für sie ersonnen hatte. Dann spielte sie mit Stöckchen und was man eben so fand. Jungen durften spielen. Nicht aber Mädchen. Deshalb genoss Elsa die Stunde, die sie gemeinsam mit Jost verbrachte, obschon ihr Anteil daran im Eigentlichen darin bestand, Jost beim Spielen zuzusehen.
Sie bewunderte, wie behände er über den Bachlauf sprang: hin und wieder zurück. Mehrmals. Sie liefen die Weide hinauf bis zur Baumgruppe. Elsa konnte kaum Schritt halten. Jost zeigte ihr einen Kletterbaum und wie man in die Krone kam. Elsa suchte eine Ranke oder eine Winde, mit der sie den Rock zwischen ihren Beinen hätte zusammenbinden können, wurde aber nicht fündig und sah sich auf das Vergnügen, im Wipfel zu sitzen, verzichten. Jost versprach ihr, nicht zu gucken und kletterte voran, damit sie ungeniert hinter ihm her konnte.
Es war herrlich, die Welt von oben zu sehen. Nie zuvor hatte Elsa in einem Baum gesessen. Jost pflückte ihr einen Apfel. Von hier oben konnte man die Spitze des Kirchturms sehen, das von Bäumen gesäumte silbern glitzernde Band des Weißen Schöps’, die überreifen oder schon abgeernteten Hufen, die von jedem Hof abgingen und das ein oder andere Fuhrwerk, das den Dorfweg gen Osten entlangrumpelte, um auf die Hohe Straße und Richtung Görlitz zu gelangen. Görlitz war mit dem Ochsengespann in gut vier Stunden zu erreichen. Elsa war noch nie in der Sechsstadt gewesen. Die Geschichten von Vater und Mutter, die dort manchen Krug vom Gebräu zu verkaufen suchten, beängstigten sie. Niemals wollte sie in die übervolle, übellaunige und garantiert stinkende Stadt!
Jost erzählte ihr von der Sechsstadt, die auch das Tor nach Osten genannt wurde. Er hatte dort Verwandte mütterlicherseits und gab sich weltmännisch. Elsa war beeindruckt. Er erzählte, was man in der Stadt Schönes kaufen konnte. Er beschrieb das feine Tuch, das dort hergestellt wurde, und den Stapel, in dem alles, was das Herz begehrte, gelagert wurde. Er berichtete von den Gauklern, die auf den beiden Marktplätzen ihre Kunststücke zeigten und Lieder sangen. Manchmal kamen richtige Bänkelsänger vorbei oder ganze Trupps von Schaustellern. Der Junge sagte das so, als fuhr er monatlich einmal dorthin, um sich diese Spektakel anzusehen. Elsa war immer nur hier gewesen. Hier kannte jeder jeden. Man musste genau aufpassen, wem man was erzählte, damit es nicht am nächsten Tag alle und vor allem die Falschen wussten. Jost beschrieb die Spielsachen, mit denen in Görlitz gehandelt wurde. Spielsachen! Elsa staunte über Josts übergroße Schlauheit. „Du meinst Dinge, die zu nichts anderem da sind, außer zum Herumtollen und sonst keinen Nutzen haben? So wie die Murmeln von Andres?“
Jost nickte. „Ja, die auch, aber Murmeln sind langweilig. Ich meine Steckenpferd, Reifen und Kegel und so. Ich zeig dir ein Spiel.“ Damit sprang Jost aus der Astgabel, suchte und fand unterm Baum drei Stöcke. „Na, komm schon.“ Elsa kletterte vorsichtig vom Baum und dieses Mal guckte er doch.
Jost zeigte ihr ein Spiel mit drei Stöcken, bei dem es darum ging, einen Stock mit den beiden anderen hochzuwerfen, und wieder aufzufangen. Die Schwierigkeit bestand darin, dass sich der hoch geworfene Stecken in der Luft drehen sollte. Elsa gelang das nicht. Jost amüsierte sich köstlich über sie.
Von nun an machte sich Elsa für den Gottesdienst besonders fein: kämmte ihr Haar so lange, bis es glänzte, steckte den Reif mit Hingabe auf und achtete auf ihren Sonntagsstaat. Hatte sie früher ein kleiner Fleck oder ein gezogener Faden nicht gestört, so behob sie den Makel wie ein zu verbergendes Schandmahl. Das alles tat sie nicht aus tiefster Gottesfurcht. Sie wollte nicht Gott gefallen, sondern einem anderen.
Diesen Plan verfolgte aber so ziemlich jedes Mädchen der Parochie. Elsa fiel auf, dass die Mädchen sich verhohlen nach Jost umdrehten, kaum, dass er die Kirche betrat. Er war immer noch eine Elle kleiner als sein stattlicher Vater, doch vom selben Stolz beseelt wie jener und von eben jenem Ansinnen erfüllt, sich in der Gemeinde als der Briuwer hervorzutun. Nur Elsa verrenkte sich nicht den Hals nach ihm. Dazu war sie zu schüchtern. Sie schlug das Kreuz und die Augen nieder, wie es sich an diesem Ort gehörte, und war doch mit jeder Faser drüben, auf