Ketzerhaus. Ivonne Hübner

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Ketzerhaus - Ivonne Hübner

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Mundwinkeln zu verteilen, dass es echt aussah. Auch am Ellbogen verteilte sie ein bisschen was von dem Matsch. Sie warteten jenen Moment ab, da Orwid Hinterthur die Schweine fütterte und Reinhilde den Hühnerstall verschloss. Johanna und Maria waren ebenfalls draußen beschäftigt und sammelten die tagsüber gelegten Eier ein.

      Jost stieg zu den Schlafstuben hinauf. Er wusste, dass Andres in der Kammer hockte, las oder betete oder beides. Als Jost vor der Tür Aufstellung bezogen hatte, gab er Elsa ein Zeichen. Daraufhin schlug sie so kräftig die Haustüre, dass es oben gut zu hören war, imitierte die Stimme einer der Hinterthur-Mädchen und rief Andres’ Namen. Folgsam, wie der Langweiler nun einmal war, riss er die Kammertür auf. Jost warf sich zu Boden, ließ seinen Bruder im Glauben, vom Türblatt hart gegen den Kopf getroffen worden zu sein. Er brüllte und zappelte wie einer, der einen Anfall bekam. Dann blieb er steif liegen, die Augen starr gen Dachstuhl gerichtet. Elsa, immer noch in der unteren Haustür, hatte einen vortrefflichen Blick nach oben und unterdrückte ihr Gelächter. Andres, schockiert und erschrocken von seiner Gewalttat, beugte sich über ihn, stammelte seine Entschuldigungen, sandte Stoßgebete zum lieben Herrgott und rüttelte Jost an den Schultern, um ihn zurück zu den Lebenden zu holen.

      Bald mimte Jost, zu sich zu kommen, spuckte den blutroten Kirschsaft um sich – auch gegen Andres’ Gesicht – und obendrein eine Salve Kirschkerne. Danach hielt es ihn nicht länger und er prustete los.

      „Witzig!“, stieß Andres den Lachenden, der sich aufrichten wollte, zurück auf die Dielen und verschwand in der Kammer. Jost lachte noch, als er sich am Schwarzbach den Kirschmatsch aus dem Gesicht wusch, und beschrieb immer wieder Andres’ Miene. Er begleitete Elsa noch ein Stück heimwärts.

      „Das nächste Mal …“ Und Jost kreierte weitere Gemeinheiten gegen seinen Bruder, die kaum zu übertreffen waren. „Zu keinem ein Wort, kleine Els, ja?“

      Elsa nickte. Jost lächelte. „Wir haben ein Geheimnis miteinander, Elsa“. Er zeigte das Lächeln, das den Hinterthurs eigen war. Ein Lächeln, das Reinhildens harte Züge weicher aussehen ließ, weiblicher und beinahe besorgt, ein Lächeln, das auf Orwids Stoppelgesicht schelmisch, in Johannas Gesicht kokett und auf Marias kleiner schmaler Miene irgendwie mitleiderregend wirkte, ein Lächeln, das bei Jost und Andres eine verheißungsvolle Note hatte. Aber anders als Andres’ offenes Lächeln hatte Elsa bei Jost das Gefühl, dass er mit seinem Lächeln Versprechen brach und ihm dennoch immer verziehen würde.

      Jener Sommer anno 1511 erbarmte sich der Felder. Sie sonnten sich nach kurzen, ergiebigen Schauern und gediehen. Der Schöps war randvoll, erhob sich aber nicht aus dem Flussbett. Die Kinder tollten nach dem Kirchgang oder in den Abendstunden an seinen Ufern, wenn alle Arbeit verrichtet war.

      Elsa hatte das Gefühl, in diesem Sommer ein beträchtliches Stück erwachsener geworden zu sein. Nicht nur, dass es inzwischen genügend Kinder gab, die jünger waren als sie selbst, sondern auch die Tatsache, dass sie bald zwölf war, machte sie selbstsicherer.

      So erlebte Andres’ Heilige Schrift Höhenflügel, als sie eines schönen Sonntages in den Wipfeln der Weiden am Schöps verschwand, weil er nicht bemerkt hatte, wie Jost eine Schnur um sie gelegt, während Elsa ihn abgelenkt hatte. Andres verzog keine Miene, wartete bis sein jüngerer Bruder den Spaß an der fliegenden Bibel verlor und sie schließlich wieder herunterließ. An einem anderen Tag legten sie mit seinen Murmeln eine Spur, der Andres unweigerlich folgen musste, wenn er seine Perlen einsammeln wollte. Die schönste aller Murmeln thronte leider in einem riesigen, stinkenden Kuhfladen. Elsa und Jost bogen sich in ihrem Versteck vor Lachen, als sie beobachteten, wie Andres ein Stöckchen suchte, um die Murmel aus dem Scheißhaufen zu klauben. Auch hierbei verzog Andres keine Miene. Er wusch die Murmeln und seine Hände im Schwarzbach.

      Ein Streich allerdings ging nach hinten los. Es war Erntedank. Jost und Elsa hatten in kleinlicher Mühe in den inneren Kragen von Andres’ Kirchenhemd Hagebuttenbrei geschmiert und freuten sich schon darauf, wenn er beim Hochamt halb wahnsinnig würde, um dem Juckreiz zu widerstehen. Pleban Horn würde versucht sein, an ihm einen Exorzismus zu vollführen.

      Umso erstaunlicher war es für Elsa, zur Heiligen Messe Jost zu beobachten, der mit hochrotem Kopf und verbissener Miene im Gebälk saß, von Reinhilde gerügt wurde, weil er sich unanständig im Nacken kratzte und die daneben Sitzenden schon abrückten aus Angst vor Flöhen. Jost war der Erste, der nach der Messe das Weite suchte. Elsa entging das genügsame Lächeln auf Andres’ Miene nicht.

      Elsa durfte einen Abstecher zum Fluss machen, wo sie Jost schon von Weitem sah: Knietief und kopfüber gebeugt stand er im Fluss und schrubbte seinen Nacken und sein Haar. Das Hemd tänzelte in der Strömung. Jost zog es immer wieder zu sich zurück. „Er hat es umgetauscht, der Bastard“, schimpfte er, kaum dass er Elsas gewahr wurde. „Wir haben die gleichen Kirchenhemden und er hat das mit den Hagebutten einfach auf meinen Stapel gelegt.“

      Elsa verkniff sich ein Grinsen. Als sie schon auf dem Rückweg war, rief er ihr noch hinterher, dass er sie am Nachmittag an der Weggabelung treffen wolle, dann würden sie überlegen, wie sie sich rächen könnten. Elsa, die sich bei Andres für gar nichts rächen musste, würde zur Weggabelung kommen. Dagegen war sie machtlos. Sie trat auf die Dorfstraße und kreuzte geradewegs den Weg der Familie Hinterthur. Geordnet, die Eltern voran, die Kinder hinterdrein, gingen sie hinauf Richtung Weinberg. Unter den gesenkten Lidern ließ sie Andres, neben dem sie herging, nicht aus den Augen. Ihr war bislang nicht aufgefallen, dass sie ihm bereits bis zu den Schultern reichte. Selten fiel ihr auf, wie schnell sie wuchs. Reinhilde fragte sich, wo Jost bloß steckte.

      Andres wischte seine struppigen, leicht gelockten Haarsträhnen hinter die Ohren. „Ich könnte mir vorstellen, dass Jost ein Bad nötig hat – aber wen juckt das schon?“

      Elsa spürte, wie ihr Gesicht von innen glühte. „Es war nicht meine Idee“, murmelte sie kleinlaut.

      „Ich weiß.“ Insgeheim war sie ihm dankbar, dass er ihr keine Vorwürfe machte, oder schlecht von ihr dachte. Sie merkte, dass er sie musterte. „Nimm dich vor ihm in Acht.“

      Elsas Blick kreuzte den seinen. Aus seinen dunklen Mandelaugen sprach nichts als Aufrichtigkeit. „Ich kann auf mich selbst aufpassen!“, raunte sie, raffte den Rock und sprang die Böschung hinauf, um eine Abkürzung zum Mälzerhof zu nehmen.

       Die die Buße betreffenden Satzungen haben Geltung nur für den Lebenden und dürfen in keiner Weise auf den Sterbenden angewendet werden.

      Um die Jahreswende machte bald die Runde, dass einer der Gerßdorffschen Jagdhunde versehentlich erlegt worden war. Elsa mochte die Hunde nicht unbedingt. Sie preschten bellend durch die Wälder und man konnte nie wissen, ob sie nicht einen Abstecher auf den Hof nahmen und dann um sich bissen. Ihr Gewissen jedoch war bleischwer, weil sie wusste, wer sich heimlich, wenn der Wildhüter nicht in seiner Hütte war, die Armbrust nahm und auf harmlose Tiere zielte. Gott würde sie und Jost Hinterthur hart bestrafen. Das wusste Elsa.

      Jost war schlecht gelaunt, weil nach der Sache mit dem Jagdhund die Hütte verriegelt blieb. Allein der Wildhüter musste erahnt haben, dass hier jemand wochenlang sein Unwesen getrieben hatte. Elsa war froh und glücklich, dass Jost nicht mehr die Armbrust stibitzen konnte.

      Mit dem Januar anno 1512 kam der Schnee. Sie bauten Schneehütten und sausten mit den vielen anderen Kindern den Weinberg hinunter. Der Winter hielt lange, der Schnee lag bis Ostern, aber dann schob sich die Sonne mit aller Macht vor die Wolken und schickte die Schmelzwassermassen aus dem Gebirge und vom Eigen mit aller Wucht herunter, dass der Schöps über seine Ufer trat. Viele Gehöfte standen unter Wasser. Das

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