Drachensonne. Thomas Strehl

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Drachensonne - Thomas Strehl

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antwortete nicht, schlug nur die Hände vors Gesicht und schluchzte.

      Das weiße Tier trat langsam näher und stupste den Jungen mit der Schnauze an der Schulter an.

      »Verzeih«, sagte er ruhig. »Wir waren lange nicht mehr in Karma'neah. Mir scheint, hier hat sich einiges verändert.«

      Der Junge sah das Tier durch die Finger hindurch an.

      »Und wenn du partout kein Araun sein willst, dann eben nicht.«

      Der Hirsch ging in die Knie und legte sich neben den sitzenden Jungen. Sein Kopf befand sich nun in Augenhöhe, und Gwayhier sah Jonaas voller Mitleid an.

      Sofort spürte der Junge ein Gefühl der Wärme und des Friedens.

      »Was bedrückt dich?«, fragte der weiße Hirsch. »Erzähl mir davon.«

      Und Jonaas begann.

      Er erzählte von seinem Leben bei den Sangapao, von der Prüfung und ihrem unrühmlichen Ausgang. So gut es ging, versuchte er, sich an die Einzelheiten in der Höhle zu erinnern, denn der Hirsch wollte alles über den Angreifer wissen.

      Dann berichtete er darüber, wie es ihm im Dorf ergangen war, von seinem Arrest und wie es ihm gelungen war, mit Hilfe seiner Mutter zu fliehen.

      Am meisten jedoch interessierte das Tier die Geschichte seines Vaters und die Abschiedsgeschenke, die seine Mutter dem Jungen gegeben hatte.

      Er betrachtete aufmerksam die Flöte, die Armstulpen und die Waffe mit den geheimnisvollen Glaskugeln.

      Als Jonaas geendet hatte, sagte der weiße Hirsch lange Zeit nichts. Er betrachtete still und nachdenklich den Wald. Der Junge wollte schon fragen, ob alles in Ordnung war, da nickte das große Tier mit dem Kopf.

      »Dann ist es also wahr«, sagte er leise. »Dann hat sich die Prophezeiung der Alten erfüllt.«

      Jonaas verstand das Tier nicht. »Prophezeiung?«, fragte er.

      »Ja, die Alten, die noch die großen Kriege erlebt haben, berichteten davon. Einige von ihnen konnten in die Zukunft sehen, weißt du? Und der Weiseste von allen hat vorausgesehen, dass der Frieden Karma’neahs nicht von ewiger Dauer sein wird.«

      »Und du meinst, jetzt ist es so weit? Es wird Krieg geben?«

      Der Hirsch schüttelte sein mächtiges Haupt. »Nicht, wenn wir schnell genug sind«, sagte er. »Und wenn du deine Aufgabe erfüllst.«

      »Meine Aufgabe?«, fragte der Junge. »Was ist meine Aufgabe?«

      Wieder antwortete das Tier nicht direkt. Wieder verlor sich sein Blick in der Ferne.

      »Wenn die Flamme erlischt, die Welt im Dunkeln versinkt,

      schwarze Magie Tod und Unheil bringt,

      erscheint der Wanderer zwischen den Welten.

      Zwei Seelen in Liebe vereint,

      einen, was einst entzweit,

      und heilen die Welt.«

      Er sah den Jungen aus traurigen Augen an. »So lautet die alte Prophezeiung«, sagte er.

      »Und was habe ich damit zu tun?«, fragte der Junge. Er konnte sich aus der Geschichte des Hirsches keinen Reim machen.

      »Ich weiß es nicht«, sagte der Weiße. »Ich bin nur ein Hirsch, und zwar weiß, aber nicht weise.« Er zwinkerte dem Jungen zu. »Aber alles deutet für mich darauf hin, dass du etwas mit der Sache zu tun hast.« Er zeigte die Zähne. »Denn ob du es wahrhaben willst oder nicht, du bist ein Araun, und das ist Grund genug.«

      »Tut mir leid, ich verstehe dich nicht.«

      »Weißt du«, sagte das Tier. »Manchmal versteh ich mich selbst nicht. Aber glaube mir, ich werde dich jemandem vorstellen, der dir hilft, Licht in das Dunkel zu bringen.«

      »Aber eigentlich muss ich dem Schwarzen hinterher, die Flamme retten und Talkien und Swon finden ...«, sagte der Junge und gähnte.

      Diesmal grinste der Hirsch wirklich.

      »Ganz schön viel auf einmal für einen kleinen Mann«, sagte Gwayhier. »Wie wäre es, wenn du dich erst einmal ausruhst. Mit Verlaub gesagt, du siehst nicht gerade frisch aus.«

      Und wie auf Kommando gähnte Jonaas noch einmal. Seine Muskeln schmerzten, seine Knochen waren bleischwer.

      »Ich kann keine Pause machen«, sagte er, auch wenn sein Körper etwas anderes behauptete.

      »Ruh dich aus«, sagte der Hirsch leise. Seine Stimme hatte beinahe einen hypnotischen Klang. »Ich werde über dich wachen.«

      Jonaas hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Seine Lider gehorchten ihm nicht mehr.

      »Aber ...«

      »Morgen wirst du sehr schnell vorankommen«, sagte der Hirsch. »Schließlich hast du ab jetzt ein Reittier.«

      Jonaas lächelte, dann übermannte ihn vollends der Schlaf, und er fiel da, wo er gesessen hatte, ins Gras und schlief ein, noch bevor er ganz zum Liegen gekommen war.

      Der Hirsch stellte sich über ihn, und seine Augen suchten die Sterne.

      Die Welt ist erneut in Bewegung, dachte er. Veränderungen stehen an.

      Er senkte den Blick und betrachtete den schlafenden Jungen.

      »Zu lange fort«, murmelte er. »Wir waren zu lange fort.«

      Und dann betete er zu seinen Göttern um Kraft und einen glücklichen Ausgang.

Kapitel 10

      Es war am sechsten Tag ihrer Reise, als die Landschaft sich veränderte.

      Die Bäume wurden niedriger, wuchsen nicht mehr so dicht, das Unterholz verschwand beinahe völlig, und die Lichtungen, die sie durchritten, wurden immer größer.

      Auch der Boden war nicht mehr weich und bemoost, sondern dort, wo ihn die Strahlen der Sonnen immerwährend trafen, hart und staubig.

      Einen halben Tag später hörte der Wald ganz auf.

      Swon atmete tief durch, als sie den Schutz der Bäume verließen und ihr Blick auf eine weite felsige Ebene fiel.

      Nie zuvor hatte der Junge den Wald verlassen, und das Bild, das sich nun seinen Augen bot, musste er erst einmal verarbeiten.

      Auch Talkien zügelte sein Pferd und ließ seinen Blick über das weite Land schweifen.

      Hüfthohe Büsche wuchsen hier und da, vereinzelte karge Bäume gab es, doch zum größten Teil störten nur riesige Felsbrocken, die ein Gigant wahllos in der Ebene verteilt zu haben schien, das freie Feld.

      Das Land vor ihnen senkte sich ein wenig ab, sodass ihr Blick vom Waldrand aus bis zum Horizont reichte.

      Swon

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