Heimatlos (mit Illustrationen). Johanna Spyri

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Heimatlos (mit Illustrationen) - Johanna Spyri

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ein Wort mit dir reden. Dein Vater ist ein Italiener, Rico. Siehst du, dort unten gibt es allerhand Dinge, von denen wir hier in den Bergen nichts wissen. Nun sieh mir in die Augen und sag mir ehrlich und der Wahrheit gemäß: Wie bist du dazu gekommen, die Melodie ohne Fehler auf meiner Geige zu spielen?« Rico schaute den Lehrer mit ehrlichen Augen an und sagte: »Ich habe, sie Euch in der Singschule abgelernt, wo wir sie soviel singen.«

      Diese Worte gaben der Sache eine ganz andere Wendung. Der Lehrer stand auf und ging einige Male hin und her. So war er selbst der Urheber dieses erstaunlichen Talentes, es waren also keine Schwarzkünste dabei im Spiel. Mit versöhntem Gemüt zog er jetzt einen Beutel hervor: »Da ist ein halber Gulden, Rico, er gehört dir mit Recht. Nun mach weiter so und sei recht aufmerksam beim Geigenspiel, solange du zur Schule gehst, dann kannst du's zu etwas bringen. In zwölf bis vierzehn Jahren wird es so weit sein, daß du dir auch eine Geige anschaffen kannst. Jetzt darfst du gehen.«

      Rico warf noch einen Blick auf die Geige, dann ging er mit betrübtem Herzen davon.

      Stineli kam hinter dem Holzstoß hervorgerannt: »Diesmal bist du aber lang geblieben, hast du gefragt?«

      »Es ist alles umsonst«, sagte Rico, und seine Augenbrauen kamen vor Leid so nah zusammen, daß ein dicker, schwarzer Strich über den Augen war. »Eine Geige kostet sechshundert Pfennig, und in vierzehn Jahren kann ich eine kaufen, wenn schon lange alles tot ist. Wer sollte in vierzehn Jahren noch am Leben sein! Da, das kannst du haben, ich will's nicht.« Damit drückte er den halben Gulden in Stinelis Hand.

      »Sechshundert Pfennig!« wiederholte Stineli voller Entsetzen. »Aber woher hast du das viele Geld hier?« Rico erzählte nun alles, wie es bei dem Lehrer gegangen war, und endete wieder mit den kummervollen Worten: »Jetzt ist alles verloren.«

      Stineli wollte ihm wenigstens als einen ganz kleinen Trost seinen halben Gulden aufdrängen; aber er war so zornig über den unschuldigen halben Gulden und wollte ihn nicht einmal ansehen.

      Da sagte Stineli: »Dann will ich ihn zu meinen Pfennigen tun, und dann wollen wir das Geld miteinander teilen, und alles gehört uns zusammen.«

      Der ferne schöne See ohne Namen

      Als Stineli am Sonntagmorgen die Augen aufmachte, hatte es eine große Freude im Herzen und wußte zuerst gar nicht warum, bis es sich besann, daß es Sonntag war und die Großmutter noch spät am Abend gesagt hatte: »Morgen sollst du auch Sonntag haben, der ganze Nachmittag gehört dir!«

      Als das Mittagessen vorbei war und Stineli alle Teller weggetragen und den Tisch abgewaschen hatte, rief Peterli: »Komm zu mir, Stineli!« Und die zwei anderen im Bett schrien: »Nein, zu mir!« Und der Vater sagte: »Das Stineli muß nach der Geiß sehen.«

      Aber nun ging die Großmutter in die Küche hinaus und winkte dem Stineli nach. »Geh du jetzt los«, sagte sie, »für die Geiß und die Kinder will ich schon sorgen, und wenn's zur Betglocke läutet, kommt heim.« Die Großmutter wußte schon, daß es zwei waren.

      Jetzt schoß Stineli wie ein Vogel davon, dem man die Käfigtür aufgemacht hat, und drüben stand Rico, der hatte schon lange gewartet. Nun zogen sie aus über die Wiese hin, der Waldhöhe zu. Die Sonne schien an allen Bergen, und der Himmel lag blau darüber. Auf der Schattenseite mußten sie noch ein wenig im Schnee gehen bis hinauf, aber da kam die Sonne von vorn und flimmerte über den See, und da waren schöne trockene Plätzchen am Abhang, steil über dem Wasser. Da setzten sich die Kinder hin. Es pfiff ein scharfer Wind über die Höhe und sauste ihnen um die Ohren. Stineli war lauter Freude und Glück. Immer wieder rief es aus:

      »Sieh, sieh, Rico, die Sonne, wie schön! Jetzt wird's Sommer. Sieh, wie es auf dem See glitzert. Es kann gar keinen schöneren See geben, als der ist«, sagte es jetzt voller Überzeugung.

      »Ja, ja, Stineli, du solltest nur einmal den See sehen, den ich meine!« und Rico schaute so verloren über den See hin, als finge, was er ansehen wollte, erst dort an, wo man nichts mehr sah.

      »Siehst du, dort stehen nicht so schwarze Tannen mit Nadeln, da gibt es glänzende grüne Blätter und große rote Blumen. Die Berge stehen nicht so hoch und schwarz und so nah, nur in der Ferne liegen sie ganz violett. Am Himmel und auf dem See ist alles golden und so still und warm. Dort pfeift der Wind nicht so, und die Füße hat man nicht so voll Schnee, dort kann man immer so am sonnigen Boden sitzen und zuschauen.«

      Stineli war ganz hingerissen. Es sah schon die roten Blumen und den goldenen See vor sich, das mußte doch so schön sein.

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      »Vielleicht kannst du wieder einmal dahin gehen an den See und alles wieder sehen. Kennst du den Weg?«

      »Man geht auf den Maloja. Dort bin ich schon mit dem Vater gewesen. Da hat er mir die Straße gezeigt, die geht den ganzen Weg hinunter, immer so hin und her, und weit unten ist der See, aber noch so weit, daß man fast nicht hinkommen kann.«

      »Ach, das ist doch leicht«, meinte Stineli, »du müßtest nur immer weitergehen, so kämst du sicher zuletzt dahin.«

      »Aber der Vater hat mir noch etwas gesagt. Siehst du, Stineli: Wenn man auf dem Wege ist und in ein Wirtshaus hineingeht und ißt und schläft da, so muß man immer bezahlen, und dafür muß man wieder Geld haben.«

      »Oh, Geld haben wir jetzt soviel!« rief Stineli triumphierend. Rico jedoch triumphierte nicht mit.

      »Das ist geradesoviel wie nichts, das weiß ich noch von der Geige«, sagte er traurig.

      »So bleib du lieber daheim, Rico, sieh, es ist doch daheim so schön.«

      Eine Weile saß Rico nachdenklich da, seinen Kopf auf den Ellbogen gestützt, und seine Augenbrauen kamen wieder ganz zusammen. Jetzt kehrte er sich wieder zu Stineli, das inzwischen von dem weichen grünen Moos ausrupfte und ein Bettlein machte, zwei Kissen und eine Decke, die wollte es dem kranken Urschli bringen. »Du meinst, ich sollte lieber daheim bleiben, Stineli«, sagte er mit gefalteter Stirne. »Weißt du, mir ist es geradeso, als ob ich nicht wüßte, wo ich daheim bin.«

      »Ach, was sagst du da!« rief Stineli und warf vor Erstaunen eine ganze Hand voll Moos weg. »Hier bist du daheim, natürlich. Man ist doch immer dort daheim, wo man seinen Vater und seine Mutter –« hier hielt es plötzlich inne. Rico hatte ja gar keine Mutter, und der Vater war schon so lang wieder fort, und die Base? – Stineli kam der Base nie zu nah, sie hatte ihm nie ein gutes Wort gegeben. Es wußte gar nicht mehr, was es sagen sollte. Aber Stineli konnte in einem so unsicheren Zustand nicht lange bleiben. Rico hatte wieder angefangen zu staunen; auf einmal faßte es ihn am Arm und rief: »Nun möchte ich doch wissen, wie heißt der See, wo es so schön ist?«

      Rico besann sich. »Ich weiß es nicht«, sagte er, selbst darüber verwundert.

      Da schlug Stineli vor, sie wollten jemand fragen, wie er heiße, denn wenn Rico doch einmal viel Geld hätte und gehen könnte, so müßte er ja den Weg erfragen und einen Namen wissen. Nun fingen sie an zu beraten, wen man fragen könnte: den Lehrer oder die Großmutter. Da fiel es Rico ein, der Vater werde es am besten wissen, den wolle er fragen, sobald er heimkomme.

      Inzwischen war die Zeit vergangen, und auf einmal hörten die Kinder in der Ferne ein leises Läuten. Sie kannten den Ton, es war die Betglocke. Sie sprangen gleich beide vom Boden auf und rannten miteinander Hand in Hand durch Gestrüpp und Schnee die Halde hinunter und über die Wiese hin, und es hatte noch

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