Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac

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Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Honore de Balzac Gesammelte Werke bei Null Papier

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durch, die jene schreck­li­chen Ent­la­dun­gen des durch einen un­be­kann­ten Mecha­nis­mus aus­ge­wei­te­ten oder kon­zen­trier­ten Wil­lens be­wir­ken. So emp­fand die arme Frau wäh­rend ei­nes Zeit­rau­mes, der nach der Uhr ge­mes­sen sehr kurz, aber nach der Schnel­lig­keit der ein­an­der fol­gen­den Ein­drücke be­rech­net, un­meß­bar war, das un­ge­heu­er­li­che Ver­mö­gen, mehr Ge­dan­ken zu fas­sen und mehr Erin­ne­run­gen in sich auf­stei­gen zu las­sen, als sie bei nor­ma­lem Zu­stan­de ih­rer Fä­hig­kei­ten im Ver­lau­fe ei­nes gan­zen Ta­ges ver­mocht hät­te. Die an­schau­li­che Wie­der­ga­be die­ses Mo­no­lo­ges ge­schieht am bes­ten mit den we­ni­gen un­ge­reim­ten, wi­der­spruchs­vol­len und sinn­lo­sen Wor­ten, so wie sie ge­spro­chen wur­den:

      »Es gibt gar kei­nen Grund, warum Bi­rot­teau aus dem Bett ge­stie­gen ist! Er hat so viel Kalbs­bra­ten ge­ges­sen, viel­leicht ist ihm schlecht! Aber wenn er un­wohl wäre, wür­de er mich ge­weckt ha­ben. Neun­zehn Jah­re schla­fen wir zu­sam­men in die­sem Bett, in die­sem sel­ben Hau­se, und nie­mals ist es pas­siert, daß er auf­ge­stan­den wäre, ohne es mir zu sa­gen, der arme Kerl! Er war nur weg, wenn er die Nacht auf Wa­che ver­brin­gen muß­te. Ist er denn heu­te abend mit mir zu­sam­men schla­fen ge­gan­gen? Aber ge­wiß doch; mein Gott, wie dumm bin ich.«

      Sie rich­te­te ih­ren Blick auf das Bett und sah dort die Nacht­müt­ze ih­res Man­nes, die noch die fast ke­gel­ar­ti­ge Form sei­nes Kop­fes zeig­te.

      »Er ist also tot! Soll­te er sich ge­tö­tet ha­ben? Aber wes­halb denn?« fing sie wie­der an. »Seit zwei Jah­ren, seit­dem sie ihn zum Bei­ge­ord­ne­ten er­nannt ha­ben, ist er ganz wie aus­ge­tauscht. Ihm ein Amt auf­zu­la­den, ist das nicht, so wahr ich eine an­stän­di­ge Frau bin, zum Er­bar­men? Sein Ge­schäft geht gut, er hat mir einen Schal ge­schenkt. Soll­te es doch nicht gut ge­hen? Ach, das wür­de ich doch wis­sen. Aber kann man je­mals wis­sen, was ein Mann hin­ter sich hat? Oder eine Frau? Aber das ist auch kein Un­glück. Aber wir ha­ben doch heu­te für fünf­tau­send Fran­ken ver­kauft! Üb­ri­gens kann ein Bei­ge­ord­ne­ter nicht Selbst­mord ver­üben, dazu kennt er die Ge­set­ze zu gut. Aber wo steckt er denn?«

      Sie ver­moch­te we­der den Kopf zu dre­hen, noch die Hand aus­zu­stre­cken, um die Klin­gel zu zie­hen, die die Kö­chin, drei Kom­mis und den Haus­die­ner in Be­we­gung ge­setzt hät­te. Un­ter dem Alp­druck, der sich auch in ih­rem wa­chen Zu­stan­de fort­setz­te, ver­gaß sie, daß ihre Toch­ter fried­lich im Ne­ben­zim­mer schlief, des­sen Tür sich am Fu­ßen­de ih­res Bet­tes be­fand. End­lich schrie sie: »Bi­rot­teau!« Es er­folg­te kei­ner­lei Ant­wort. Sie glaub­te, den Na­men, ge­ru­fen zu ha­ben und hat­te ihn nur in Ge­dan­ken aus­ge­spro­chen.

      »Soll­te er eine Ge­lieb­te ha­ben? Dazu ist er zu ein­fäl­tig«, fuhr sie fort, »und dazu hat er mich auch viel zu lieb. Hat er nicht zu Frau Ro­guin ge­sagt, daß er mir nie­mals un­treu ge­we­sen ist, nicht ein­mal in Ge­dan­ken? Er ist doch die Ehren­haf­tig­keit sel­ber, die­ser Mann. Wenn Ei­ner ins Pa­ra­dies zu kom­men ver­dient, dann ist er es. Was hat er sei­nem Beicht­va­ter zu be­ken­nen? Lap­pa­li­en. Für einen Roya­lis­ten zum Bei­spiel, der er ist, ohne recht zu wis­sen warum, trägt er sei­ne Re­li­gi­on nicht ge­ra­de sehr zur Schau. Der gute Kerl geht um acht Uhr mor­gens heim­lich zur Mes­se, als ob er in ein zwei­fel­haf­tes Haus schli­che. Er fürch­tet Gott, aber um Got­tes, nicht um der Höl­le wil­len; die geht ihn nichts an. Wie soll­te er auch eine Ge­lieb­te ha­ben? Er hängt mir so am Rock, daß er mich schon da­mit lang­weilt. Er liebt mich wie sei­nen Aug­ap­fel, er wür­de sich sei­ne Au­gen für mich aus­rei­ßen las­sen. Neun­zehn Jah­re lang hat er nie ein Wort lau­ter als das an­de­re be­tont, wenn er zu mir sprach. Selbst sei­ne Toch­ter kommt für ihn erst in zwei­ter Rei­he. Aber Cäsa­ri­ne ist ja dort … (Cäsa­ri­ne! Cäsa­ri­ne!) Nie­mals hat Bi­rot­teau einen Ge­dan­ken ge­habt, den er mir nicht mit­ge­teilt hät­te. Da­mals, als er noch in den Pe­tit-Ma­te­lot kam, da hat er mit Recht be­haup­tet, daß ich ihn erst rich­tig er­ken­nen wür­de, wenn ich ihn er­probt hät­te. Und nun komm­t’s so! … Das ist doch merk­wür­dig.«

      Müh­sam dreh­te sie jetzt den Kopf und sah ver­stoh­len durch das Zim­mer, noch ganz er­füllt von den phan­tas­ti­schen Nacht­ge­sich­ten, an de­ren Wie­der­ga­be die Fe­der ver­zwei­felt und die al­lein dem Pin­sel des Gen­re­ma­lers vor­be­hal­ten zu sein schei­nen. Wie soll man mit Wor­ten das schreck­li­che Hin und Her schil­dern, das die tie­fen Schat­ten, die phan­tas­ti­schen For­men der vom Zug­wind auf­ge­bläh­ten Vor­hän­ge, das Spiel des un­deut­li­chen Lich­tes der Nacht­lam­pe auf den Fal­ten des ro­ten Ka­li­kos, die Strah­len, die ein Gar­di­nen­hal­ter wirft, de­ren schim­mern­de Mit­te dem Auge ei­nes Die­bes gleicht, die Er­schei­nung ei­nes am Bo­den lie­gen­den Rockes, kurz alle jene bi­zar­ren Din­ge her­vor­brin­gen, die die Vor­stel­lungs­kraft in dem Mo­ment in Schre­cken ver­set­zen, wo sie nur fä­hig ist, Schmer­zen zu emp­fin­den und sie noch zu ver­grö­ßern? Frau Bi­rot­teau glaub­te jetzt einen hel­len Licht­schein in dem be­nach­bar­ten Zim­mer zu se­hen und dach­te so­fort an Feu­er; als sie aber ein ro­tes Hals­tuch be­merk­te, das eine Blut­la­che zu sein schi­en, dach­te sie aus­schließ­lich an Die­be, vor al­lem, weil sie die Spu­ren ei­nes Kamp­fes an der Art, wie die Mö­bel um­ge­stellt wa­ren, zu er­ken­nen mein­te. Als sie sich der Sum­me er­in­ner­te, die in der Kas­se war, ver­trieb eine wohl­tä­ti­ge Angst die heiß­kal­ten Nacht­ge­bil­de; au­ßer sich sprang sie im Hem­de mit­ten ins Zim­mer, um ih­rem Man­ne bei­zu­stehn, den sie im Hand­ge­men­ge mit Mör­dern glaub­te.

      »Bi­rot­teau! Bi­rot­teau!« schrie sie end­lich mit angst­vol­ler Stim­me.

      Da fand sie ih­ren Mann in der Mit­te des Ne­ben­zim­mers, eine Elle in der Hand und in der Luft mes­send, aber so man­gel­haft in sei­nen Schlaf­rock aus grü­nem Kat­tun mit scho­ko­la­den­brau­nen Tüp­feln gehüllt, daß sei­ne Bei­ne von der Käl­te ge­rötet wa­ren, ohne daß er es emp­fand, so in Ge­dan­ken ver­sun­ken war er. Als er sich um­wand­te und zu sei­ner Frau sag­te: »Nun, was willst du denn, Kon­stan­ze?« mach­te er, wie die Leu­te, die von ih­ren Be­rech­nun­gen ab­sor­biert sind, ein so be­son­ders al­ber­nes Ge­sicht, daß Frau Bi­rot­teau in ein Ge­läch­ter aus­brach.

      »Mein Gott, Cäsar, wie ko­misch bist du so!« sag­te sie. »Wa­rum läßt du mich denn al­lein, ohne mir et­was zu sa­gen? Ich bin vor Angst bei­na­he ge­stor­ben, ich wuß­te gar nicht, was ich mir den­ken soll­te. Was machst du denn da, so al­lem Zug aus­ge­setzt? Du wirst dich auf den Tod er­käl­ten. Aber hörst du mich denn, Bi­rot­teau?«

      »Ja, lie­be Frau, und hier bin ich«, ant­wor­te­te der Par­füm­händ­ler und trat in das Zim­mer.

      »Vor­wärts, komm und er­wär­me dich und sag mir, was dir im Kop­fe spukt«, be­gann Frau Bi­rot­teau wie­der, schob die Asche des Ka­mins bei­sei­te und be­eil­te sich, das Feu­er wie­der an­zu­zün­den. »Mir ist eis­kalt. Ich war so tö­richt, im Hem­de her­aus­zu­sprin­gen. Aber ich habe wirk­lich ge­glaubt, man er­mor­det dich.«

      Der Kauf­mann stell­te den Leuch­ter auf den Ka­min, zog sei­nen Schlaf­rock zu­sam­men und hol­te me­cha­nisch sei­ner Frau ih­ren fla­nel­le­nen Un­ter­rock.

      »Hier, mein Herz, zieh ihn an«, sag­te er. »Zwei­und­zwan­zig

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