Der Steuerprüfer. Johannes Horn

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Der Steuerprüfer - Johannes Horn

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stand am nächsten Tag eine Tasse Kaffee auf seinem Tisch im Archiv. Herr von Guttmann hatte Gerichtstermine wahrzunehmen, was erklärt, dass die anstehenden Fragen noch nicht geklärt werden konnten. Er setzte seine Prüfung fort. Er hatte schlecht geschlafen, hatte von prachtvollen Bildern und gefälschten Zahlen geträumt, war auf dem Weg zu seiner Arbeit vom Regen überrascht worden und war schon am frühen Morgen mit seiner Mutter in einen heftigen Streit geraten. Sie hatte beklagt, dass er in den letzten Tagen alles nur schlecht-reden würde, dass er an allem etwas zu bemängeln hätte, dass er laut und unbeherrscht sei. Unkonzentriert und mürrisch nahm er seinen Rotstift zur Hand. Wieder entdeckte er Ungereimtheiten und er begann, absichtsvolle Zuwiderhandlungen zu vermuten, Verstellungen, Irreführungen, Täuschungen. Wieder schrieb er eine lange, detaillierte Liste mit noch zu klärenden Einzelheiten. Er ließ sie auf dem Tisch im Archiv liegen und ging. Inzwischen kannte er jedes Haus, das er, genau taxierend, auf seinem Heimweg passierte. Seine Vorstellungen weiteten sich von der Innenausstattung der Räumlichkeiten zu den Lebensgewohnheiten der Bewohner; er berauschte sich an vermeintlichem Reichtum und empfand Mitgefühl mit Seinesgleichen.

      Die Steuerprüfung bei Herrn von Guttmann zog sich hin. Die Besuche bei ihm wurden seltener und galten lediglich der Klärung anstehender Fragen. Es war nicht einfach, bei all dem entstandenen Misstrauen einen geordneten und gesetzmäßigen Abschluss zu finden. Am Ende erhielt Herr von Guttmann die Auflage einer gehörigen Nachzahlung. Er war es, der sie errechnet und auf den Weg gebracht hat. Mit Genugtuung hatte er das Schreiben der behördlichen Poststelle übergeben. Nun saß er wieder an seinem Schreibtisch im dritten Stock und bearbeitete die Akten. Alles war unverändert in diesem Raum, nur er war ein anderer. Verständnisvoller behandelte er die kleinen Zahlen, misstrauischer die Großen; er sah die Bilder vor sich und folgte seinen Vorstellungen. Auch zu Hause haben sich derweil die Verhältnisse geändert. Er verstand sich nicht mehr mit den Eltern, zog sich häufiger zurück, war aber voller Klage, wenn sie beisammen waren. Es müsse sich alles ändern, die Ungerechtigkeit müsse ein Ende haben. Die Eltern beobachteten die Entwicklung mit Sorge.

      Er nahm Kontakt auf mit einer politischen Gruppierung, von der er bisher keine Notiz genommen hatte, die er aber für einflussreich und wehrhaft genug hielt, wirkliche Änderungen zu bewirken. Mehr und mehr war er davon überzeugt, dass er dazu berufen sei, das bestehende Gefüge von Zahl und Bild von Grund auf zu erneuern. Doch sehr bald schon musste er feststellen, dass diese politische Gruppe seinen Vorstellungen nicht entsprach und nicht geeignet war, wirkliche Veränderungen nach seinen Vorstellungen herbeizuführen. Auch musste er sich eingestehen, dass ihm selbst konkrete Vorstellungen fehlten, die seinem inneren Bedürfnis nach Veränderung entsprechen könnten. Währenddessen erfüllte er seine beruflichen Aufgaben mit noch größerer Sorgfalt und Strenge.

      An einem normalen Wochentag ergab es sich, dass er bei einem abendlichen Rundgang durch sein eher kärgliches Stadtviertel aufmerksam wurde auf ein am Straßenrand aufgestelltes Plakat. Es entsprach nicht seiner Gewohnheit, auf plakative Werbungen und illustre Kaufangebote zu achten, die vielfältig und bunt den Weg säumten. Außerdem begann es dunkel zu werden und das in Bild und Schrift Gezeigte zog sich immer mehr in die Verschwiegenheit der Dämmerung zurück. Doch von diesem Plakat fühlte er sich angezogen, die klare und entschlossene Formel mit einprägsamen roten Lettern in den schwarzen Hintergrund eingebrannt fesselte ihn: „NICHT WEITER SO“. Es war, als könnte er sich von diesem Aufruf nicht lösen, als wäre er direkt angesprochen und so stand er vor dem Plakat, ohne zu wissen, wie mit der in ihm entstandenen Unruhe umzugehen sei. Am unteren Rand des Plakates las er drei Buchstaben, mit denen er nichts verband, doch zusammen mit dem flammenden roten Schriftzug des „NICHT WEITER SO“ prägten sie sich bei ihm ein.

      Dass er in dieser Nacht unruhig schlief, wurde ihm kaum bewusst, zu fordernd war die Gewohnheit der alltäglichen Arbeitsabläufe. Es vergingen Wochen und Monate und alles ging seinen gewohnten Gang. Er saß an seinem Schreibtisch im dritten Stock, das schwere Atmen und das gelegentliche, gequälte Husten vom Schreibtisch hinter ihm hörte er mit antrainiertem Gleichmut. Wie an jedem Tag nahm er auch heute eine Akte vom vor ihm aufgetürmten Stoß. Er las den Namen, die Anschrift und weitere Details des zu Prüfenden und stieß unvermittelt auf drei Buchstaben, die ihm bekannt vorkamen. Es war wohl Zufall, dass unvermittelt zwischen den gehefteten Aktenblättern ein kleines, handliches Papier auftauchte mit roten, markanten Lettern auf schwarzem Hintergrund „NICHT WEITER SO“. Darunter die bekannten Buchstaben, ergänzt mit einer Anschrift und dem Namen der Partei. Emsig notierte er sich die Straße und die Hausnummer in einem nicht weit entfernten Stadtgebiet.

      Am nächsten Abend saß er in der Straßenbahn schon ein wenig müde von den Verrichtungen eines eintönigen Arbeitstages. Mit abwesendem Blick verfolgte er die an ihm vorüber gleitenden Häuserfronten, die Aktentasche hielt er umarmt auf seinem Schoß. Er sah die vielen Menschen, die auf dem Weg nach Hause an den Haltestellen in das Innere der Straßenbahn drängten und, in Gedanken versunken, wurde ihm kaum bewusst, dass sich langsam und unaufhaltsam die Dunkelheit breit machte. An der Ecke Friedens-/Bürgerstraße stieg er aus. Die Gegend, in der er sich zurechtfinden musste, kannte er kaum. Er ging die Bürgerstraße entlang bis zur nach rechts abbiegenden Kriegbaumstraße, wo es nun darum ging die Hausnummer 112 ausfindig zu machen. Anfangs passierte er noch kleinere Geschäfte, ein Obst- und Gemüseladen, ein kleines Straßencafé, vor dem ein derber Holztisch und ein paar Plastikstühle sorglos zusammengerückt standen, ein Friseur dessen milchige Fensterscheiben den Blick ins Innere freigaben und schließlich ein kleines, unscheinbares Schreibwarengeschäft, das mit Zigarettenwerbung und einigen Hinweisen auf lokale Tageszeitungen, meist in türkischer Sprache, auf sich aufmerksam machte. Die Straßenlaternen gaben ein kärgliches Licht, die wenigen Passanten gingen wortlos vorüber; hinter einigen Fenstern begann sich Leben zu regen, während sich andere noch in das Dunkel geschundener Fassaden einfügten. Das Leben hinter den matt erleuchteten Fenstern interessierte ihn, zumal ihm der Umgang mit den täglichen Zahlen und Bilanzen deutlich machte, wie unterschiedlich die sich dahinter verbergenden Probleme und Nöte wohl empfunden werden. Und doch glichen sich die Fenster in ihrem nach außen dringenden Licht. Während sich das Leben jenseits der erleuchteten Fenster abspielte, fühlte er sich auf der anderen Seite gleichsam im Schatten des Lebens. Die Dunkelheit in der sich lang hinziehenden Straße verstärkte bei ihm dieses Gefühl. Auf der Suche nach der Nummer 112 ging er weiter, kaum noch die Tristesse der monotonen Häuserfluchten wahrnehmend.

      Er folgte der Straße und die zunehmende Dunkelheit folgte ihm. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, die sich wie Schatten hin und her bewegten und nur gelegentlich fuhren Autos vorüber. Immer mehr konzentrierte sich sein Blick auf eine kleine in der Ferne stehende Menschengruppe, die, wie undeutlich zu erkennen war, sich offensichtlich vor einem Lokal zusammengefunden hatte. Er kam näher und bald schon sah er sie deutlich: Vier junge Männer, rauchend, in angeregtem Gespräch vertieft. Sie nahmen kaum Notiz von dem Fremden, der vor der halb offenen Tür stehen blieb und wie gebannt auf das Plakat mit dem roten Schriftzug auf schwarzem Hintergrund blickte, das große Teile der Tür bedeckte. Eine an einem rostigen Metallträger hängende Leuchte rückte den über der Tür stehenden Namen der Gaststätte ins Blickfeld. „Zur Rose“ las er, doch er las es beiläufig, ohne besondere Aufmerksamkeit. Er ging durch die Tür. Am Ende eines langen Ganges, an dessen Wänden weitere Plakate hingen, stieß er auf ein Emailschild „Zur Gaststätte“. Mit verhaltener Entschlossenheit trat er in einen Raum, in dem zahlreiche, meist junge Menschen in Gruppen zusammenstanden und heftig diskutierten. Einige saßen an Tischen vor halb leeren Gläsern, hinten in der Ecke standen einige an einem runden Tisch, über ausgebreitete Zeitungen gebeugt, lautstark argumentierend und wild gestikulierend.

      Er berührte eine Welt, die ihm fremd war. Er liebte die leise und schmerzfreie Beschäftigung mit Zahlen, Formularen und Dokumenten. Er war es gewohnt, mit einfachen Fakten umzugehen, die skelettartig die Wirklichkeit ausblendeten, mit Bilanzen und Hochrechnungen, die aktenmäßig leicht und schnörkellos zu erstellen waren, ohne, dass sie für ihn zu Last und Bedrängnis werden konnten. Hier nun laute Rede und vehemente Gegenrede, nachhaltige Proteste und schlichtender Einwand, Vorwürfe, Mutmaßungen, Anklagen, Rechtfertigungen. In allem war aufwühlende Unzufriedenheit spürbar und der Wille zu einschneidender

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