Der Steuerprüfer. Johannes Horn

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Der Steuerprüfer - Johannes Horn

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tritt ein älterer Herr in grauem Straßenanzug langsam und mit bedächtigen Schritten ans Rednerpult. Es ist nicht einfach, sich in der aufgebrachten Stimmung des Saales Gehör zu verschaffen. Mit gedämpfter aber klarer Stimme liest er die Sätze, die er sich auf einem Blatt notiert hat: „Wir haben eine Verantwortung für das Wohl unserer Stadt. Wenn wir es nicht schaffen, uns gemeinsam dieser Aufgabe zu stellen, wenn wir nicht bereit sind, dem Anderen in Ruhe und Besonnenheit zuzuhören, wenn es uns nicht gelingt, die Grundwerte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens gemeinsam zu vertreten, wie sollte das draußen auf der Straße möglich sein? Wir sind dem Menschen – allen Menschen – verpflichtet! Daran, und nur daran will ich Sie erinnern!“. Mit Nachdruck fügt er hinzu: „Hütet sorgsam Euren Herzschlag, schützt ihn vor überrumpelnden, billigen Parolen, die uns alle ins Unglück führen!“. Er nimmt das vor ihm liegende Papier, faltet es und verlässt das Rednerpult.

      Erst ist es ruhig, doch bald schon geht ein Geraune durch den Saal, teils nachdenklich, teils zustimmend, teils verunsichert. Von den hinteren Plätzen hört man empörte Rufe: „Was soll das denn!“ und „Wir brauchen keine Poeten, wir brauchen Kämpfer!“. Es folgen weitere Reden, die aber keineswegs geeignet sind, eine Klärung herbeizuführen. Man vertagt sich. Einzig dem Verlangen nach einer Verstärkung der Polizei hinsichtlich Ausrüstung und Präsenz wird stattgegeben.

      Der Herr mit dem grauen Anzug namens Franz Gorlichs, ehemaliger Studienrat am hiesigen Gymnasium, trifft sich im Anschluss an die Sitzung mit seinem Kollegen in einem nahe gelegenen Café. Es ist spät geworden und beide Herren sind rechtschaffen müde und erschöpft doch noch voller Gedanken an die insgesamt wenig erfreuliche Aussprache. Herr Gorlichs bestellt sich einen Tee, sein Kollege ein Bier; essen wollen sie nichts. Lange sitzen sie schweigend und betroffen beisammen. Es fällt nicht leicht, angesichts so unwiderlegbarer Zeichen für ein aufziehendes Unheil, die passenden Worte zu finden. Tief nachsinnend sagt Gorlichs etwas unvermittelt: „Wie leicht ist es, mit Worten ein Herz im Sturm zu erobern; aber es sind auch Worte, die es schaffen, ein ganzes Volk in den Abgrund zu stürzen.“ „Sind es die Worte?“, fragt der Freund, „oder ist es die dahinterstehende Absicht? Oder ist es einfach die Gesinnung, die die Worte vergiftet? Vielleicht aber ist es der Boden, auf den der Samen fällt und ihn begierig aufnimmt. Wo also müssen wir ansetzen?“. Sie saßen noch bis spät in die Nacht, sich austauschend und sich gegenseitig Mut zusprechend. Eine kurze Wegstrecke gingen sie noch gemeinsam, bis sie sich verabschieden.

      In den nächsten Tagen trifft sich erneut der Bürgermeister mit seinem Führungsstab, um die Vorbereitungen für das kommende Wochenende zu treffen. Es sind wieder Demonstrationen angekündigt. Es werden zusätzliche Polizeikräfte aus den Nachbargemeinden angefordert und nach langen Beratungen ist man sich sicher, auf alles gut vorbereitet zu sein. Es ist Donnerstag. Noch vor Tagesanbruch erhalten die Parteivorsitzenden einen Anruf aus dem Büro des Bürgermeisters: „Gorlichs ist tot. Er wurde gegen Mitternacht überfallen; er wurde erstochen. Jede Hilfe kam zu spät. Eine Stadtratssitzung ist für 8.00 Uhr angesetzt.“. Die Meldungen überschlagen sich. Die Tageszeitungen berichten auf den Titelseiten. Herr Gorlichs war beliebt, als Lehrer sehr geschätzt; er galt als Vertreter der Konservativen. Schon viele Jahre war er Abgeordneter im Stadtrat und war bekannt als überaus besonnen und zuverlässig.

      Die Stimmung ist gedrückt; der Bürgermeister eröffnet die Sitzung: „Wie Sie wissen, haben wir den Tod eines überaus verdienten und allseits geschätzten Kollegen zu beklagen. Ich bitte Sie, sich zu erheben.“ Nach einer Schweigeminute fährt er in gewohnt geschäftsmäßigem Ton fort: „Nähere Umstände sind uns bislang nicht bekannt; wie wir wissen, ist Herr Gorlichs auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben. Es wird von drei oder vier Tätern berichtet; die Polizei ermittelt noch. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung gleichsam als Nachtrag zur letzten Sitzung: Er war kein Poet, er war ein mutiger Kämpfer für die Einhaltung und Bewahrung der menschlichen Würde.“. Zögernd melden sich die ersten Redner zu Wort. Die Anfänge der Aussprache verlaufen durchaus sachlich und der Situation angemessen. Die Verdienste des Verstorbenen werden gewürdigt, der entstandene Verlust immer wieder hervorgehoben. Das Gesprächsklima beginnt sich jedoch in dem Maße zu ändern, wie von einigen Rednern begonnen wird, Schuldzuweisungen nach der einen oder anderen Seite zu erheben. „Es müssen Täter aus dem links-radikalen Spektrum gewesen sein“, so die Einen mit dem Hinweis, Herr Gorlichs sei doch immerhin ein überzeugter Vertreter einer streng konservativen Politik gewesen. „Es handelt sich eindeutig um die Handschrift rechts-radikaler Kräfte. Denken Sie doch an die letzte Sitzung und an die Proteste aus den hinteren Reihen“, so die Anderen. Die angesprochenen Abgeordneten verließen prompt den Sitzungssaal. „Rechtsradikale“ oder „Linksradikale“? Die im Menschen gründende Urheberschaft des Bösen, die eigentliche Täterschaft also, wird zum Zankapfel anonymisierender Begrifflichkeiten und die Begriffe selbst zum Schutzwall des jeweils eigenen Standpunktes. Wegen zunehmend turbulenter Auswüchse wird die Sitzung vorzeitig abgebrochen.

      Die Suche nach den Tätern macht keine Fortschritte; über eine heiße Spur wird nicht berichtet. In das Entsetzen der Bürger mischen sich Ratlosigkeit und immer wieder Gerüchte, die sich auf vermeintlich gesicherte Erkenntnisse gründen. Ein Fleischermesser hätte man am Tatort gefunden, also läge es nahe, die Täter im Umfeld des Fleischerhandwerks zu vermuten. Andere wiederum machen den Tatort zum Gegenstand ihrer Vermutungen. Nachdem der Mord in der Nähe einer Kirche geschehen sei, muss angenommen werden, dass es sich um eine religiös motivierte Tat handeln würde. So läge es nahe, dass es Ausländer waren. Möglicherweise ist es diese Version, die sich bei den Bürgern festgesetzt hat, denn entgegen aller Erwartungen und Vorhersagen hat die Demonstration am Samstagnachmittag erheblichen Zulauf erfahren. Neu ist, dass viele der Demonstranten maskiert sind und es fällt die Vielzahl der mitgeführten schwarzen Plakate auf mit den aufreizenden roten Initialen. Die Atmosphäre ist aufgeheizt, aggressiv und feindselig. Es kommt zu Übergriffen und Gewalttätigkeiten gegenüber der Polizei und – in auffallender Deutlichkeit – vermehrt gegen Ausländer.

      Ausführlich wird über den Verlauf der Demon­stration in den Zeitungen der folgenden Tage berichtet. Am Montagnachmittag gibt die Polizei weitere Informationen bekannt. Mit großer Spannung wird die Übertragung der Pressekonferenz im Hörfunk und im Fernsehen erwartet. Die Bilanz der Demonstration, so der Polizeisprecher sei erschreckend: Drei Schwerverletzte, die im Krankenhaus behandelt werden müssen; Lebensgefahr bestünde allerdings nicht. Eine Vielzahl von Leichtverletzten, darunter allein 32 Polizisten. Der Sachschaden sei beträchtlich: Drei geplünderte Geschäfte, Gebäudeschäden in großem Umfang, zwei brennende Autos, insgesamt 12 Festnahmen. Was den hinterhältigen Mord an dem Stadtrat Herrn Gorlichs angeht, tappt die Polizei weiter im Dunkeln; die Bürger werden zur Wachsamkeit aufgefordert. Für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen ist eine Belohnung von 10 000 Euro ausgesetzt.

      Lange Artikel in den Zeitungen versuchen, bei gebotener Sachlichkeit, die Stimmungen in der Stadt einzufangen. Die Presse, so viel und wahrheitstreu sie auch berichtet, tut sie doch das ihrige dazu: Indem sie die bestehende Unruhe und die allgemeine Empörung in markanten Überschriften und in einer aufwühlenden Berichterstattung festschreibt und auf diese Weise im öffentlichen Bewusstsein verankert: „Es herrscht Bürgerkrieg“, „Der Ruf nach einer Bürgerwehr wird lauter“, „Muss das Militär eingreifen?“, „Die ungehemmte Aggression, wer steckt dahinter?“.

      Der Bürgermeister ruft seinen Führungsstab zu sich. „Die Situation ist unerträglich, die Gewalt beginnt sich zu verselbständigen“, so seine einleitenden Worte. „Ich weiß nicht, ob Sie schon gehört haben, dass einige Bürger einen jungen Mann heftig attackiert haben als dieser versuchte, eines der berüchtigten Plakate an einem Geschäft in der Kriegbaumstraße anzubringen. Der Vorfall hat sich gestern Abend ereignet. Während der junge Mann offenbar entwischt ist, werden zurzeit die Beteilig­ten, nach Angaben der Polizei bislang unbescholtene Bürger, zum Tathergang befragt. Sie sehen daran, meine Herren, wie gereizt und aufgebracht die derzeitige Stimmungslage in unserer Stadt ist.“. „Wie ich weiß“, ergänzt der Referent des Stadtbauamtes, „hängen in dieser Straße ohnehin schon auffallend viele Plakate dieser Art.“.

      „Es

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