EMOTION CACHING. Heike Vullriede
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Читать онлайн книгу EMOTION CACHING - Heike Vullriede страница 5
»Ich sag dir, was ich denke«, brüllte er. »Wenn du so weiter machst, werde ich dich eines Tages wie eine aufgeplatzte Katze von der Straße kratzen!«
Oha! Ein Geständnis unverhohlener Mordgier?
Sie grinste extra provokant. »Zu dumm, wenn dich hier alle beobachten. Sieh dich mal um, Haifisch. Du solltest schön aufpassen, dass mir in Zukunft eben so was nicht passiert, sonst bist du der allererste Verdächtige.«
Er starrte Kim an und musterte sie von oben bis unten. Haifisch betrachtete noch eine Weile Kims Gipsarm, schüttelte den wieder blass gewordenen Kopf und stieg in sein Auto ein. Bevor er die Tür zuknallte, warnte er sie: »Und sag deinem Freund da hinten, wenn ich seinen Film auf YouTube entdecke, kann er sich auf was gefasst machen! Ich arbeite in einer Unternehmensberatung. Da kennt man eine Menge Anwälte.«
Damit zog er die Tür zu und reihte sich, nicht ohne zu hupen, in den stockenden Verkehr auf der Kreuzung ein.
Kim blickte ihm nach. Unternehmensberater … so so … das passte irgendwie. Schade, dass er schon aufgab für heute. Fast war sie versucht, ihm nachzuwinken.
Nachdem sie sich gemeinsam mit Nico durch den Verkehr zur anderen Straßenseite geschlängelt hatte, klatschten sie mit Benni und Lena ab.
Lena hielt sich noch immer den Bauch vor Lachen, oder wie man das Nichts an ihrem Körper so nennen konnte. Sie warf ihre langen, völlig unpassend schwarz gefärbten Haare nach hinten. »Ich hab wirklich gedacht, der springt dir gleich an den Hals.«
Nico stellte sich hinter Benni, um in dessen Smartphone zu starren. »Nein, er fährt sie platt, hat er gesagt. Wie war das noch, Kim? Das mit der Katze am Boden und dem Kratzen?«, fragte er nebenbei.
»Beim nächsten Mal hat sie ihn soweit«, pflichtete Benni bei, ohne aufzublicken.
»Zeig mal her.« Eigentlich wollte sich Kim nicht auf Bennis Filmen sehen. Sie mochte die Art nicht, wie er sie ins Bild presste. Auch wenn sie mit ihm bisher ganz gut auskam – Benni war nur bedingt ein Freund. Zwar fügte er sich meist widerspruchslos in alles, was Kim in ihrer kleinen Gemeinschaft anregte und ausheckte, doch im Grunde misstraute sie ihm. Als sie noch zur Schule gingen, musste er sich beim Direktor und diversen Eltern rechtfertigen, weil er die Bilder einiger dicker Mädchen mit Photoshop bearbeitet und vor die Schulklos gehängt hatte. Die durch seine Manipulation völlig überzeichneten und überdimensionalen Fettwülste ihrer nackten Körper spukten noch immer in Kims Kopf herum. Wäre Bennis Vater nicht Anwalt in einer angesehenen Kanzlei und mit dem Direktor befreundet gewesen, hätte er ganz sicher seinen Abschluss auf einer anderen Schule gemacht. Seitdem hielt ihn sein prominenter Papa zu seinem großen Leidwesen ziemlich kurz.
Bennis eiskaltes Lächeln kroch den meisten Menschen böse in den Nacken, aber erst, wenn sie ihn näher kennenlernten. Selbst Kim hatte es sich inzwischen zur Gewohnheit gemacht, ihm niemals vertrauensvoll den Rücken zuzudrehen.
Wie erwartet, fand sie sich auch heute auf seiner Aufnahme nicht besonders ansprechend. Zwar war sie schlank und sportlich, aber wie ein Model sah sie nicht gerade aus. Es gab einige, die der Meinung waren, Kim könnte mehr aus sich machen – inklusive ihrer Mutter. Doch allein deshalb zum Trotz! Mit den verschlissenen Turnschuhen, in Longsleaves und der immer gleichen Mütze auf ihren dunklen widerspenstigen Locken fühlte sie sich am wohlsten. Sie wusste, dass ihr Gesicht etwas härtere Züge, als die der anderen Mädchen aufwies. Aber vielleicht auch nur deshalb, weil sie sich nie schminkte. Wahrscheinlich hätte ein Kosmetiker da was zaubern können … oder es hätte einen Maskenbildner gebraucht, um aus ihr ein echtes Mädchen zu machen.
Der Gipsarm im Film wirkte eher uncool auf Kim. Doch Lena schien beeindruckt. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Sieht doch verwegen aus. Ich finde, es passt zu dir.«
Lena war Bennis derzeitige Freundin. Sie entsprach vollkommen den Anforderungen, die man gewöhnlich an halbwüchsige Mädchen stellte. Lena war schrecklich dürr, immer korrekt modisch gekleidet und perfekt geschminkt – ganz nach Bennis Geschmack. Trotzdem war Kim klar, dass Lena es mit ihm nicht einfach hatte. Sie war eben leicht ersetzbar für ihn, und das wusste sie wohl. Vermutlich daher ihr gelegentliches Gezicke anderen Mädchen gegenüber, das Kim auf die Nerven ging. Im Grunde verhielt sich Lena wie ein Chamäleon. War Benni nicht da, konnte sie richtig nett sein. Manchmal hörte sie sich sogar Kims Schwärmereien über Papas große Reise an – obwohl sie sicher nie verstanden hatte, dass Kims verschollener und für tot erklärter Vater nicht irgendwo in der Erde verfaulte, sondern nur zu einer aufregenden Weltreise aufgebrochen war und irgendwann ganz bestimmt zurückkehren würde. Aber das verstand sowieso niemand. Das konnte sie ihr nicht verdenken.
Zu viert lehnten sie sich an die graffitibeschmierte Wand neben Mehmets Ladentür und gruben ihre Köpfe noch tiefer über Bennis Handy. Ihr Golffahrer machte seiner komischen Hauptrolle alle Ehre. Die drei anderen brachen in lautstarkes Gejohle aus, als er mit seinen Händen in der Luft herumfuchtelte, und steckten damit auch Kim an.
Mehmet wetzte drinnen im Laden indessen die Fleischmesser und fluchte. Als die vier Jugendlichen aus dem Gekicher nicht mehr herauskamen, drang seine akzentbeladene Stimme durch die geöffnete Tür nach draußen: »Sucht euch endlich ein anderes Zuhause auf der Straße, ihr Hühner!« Es schien einer seiner schlechteren Tage heute zu sein.
Sie blickten sich amüsiert an. Als Zuhause hatten sie ihren Treffpunkt Dönerladen noch nicht betrachtet. Aber warum eigentlich nicht? Seit der Prüfung belagerten sie das Zaziki geschwängerte Umfeld um Mehmet fast täglich.
Ob man sie damals wirklich als Freunde bezeichnen konnte? Kim glaubte es nicht. Sie vereinte eher eine Art Anderssein, und mit dem Anderssein war das so eine Sache: Entweder man fand einen fruchtbaren Weg in ein kreatives Leben oder man fand ihn nicht und verschlungene Pfade führten anstatt ins Paradies in die Hölle. Damals wussten sie noch nicht, dass sie die schlechtere Wahl ansteuerten.
Nico stieß sich von der Hauswand ab und platzierte sich zwischen der klapprigen Tür und dem zerkratzten graulackierten Rahmen, um sich an Mehmets verärgertem Gesicht zu ergötzen. »Hey, sei ehrlich – wir sind doch deine besten Kunden.«
»Brauchst gar nicht reinzukommen! Wer nichts isst, bleibt draußen!«
»Du wirfst deine einzigen Stammkunden raus?«
»Nix Stammkunden! Ihr vergrault mir die Gäste. Die …« Mit dem langen Messer in der Hand durchschnitt Mehmet die Luft und zeigte an Nicos Sommersprossengesicht, Kim und den anderen vorbei zur gegenüberliegenden Straßenseite. Zwei wenig vertrauensselig aussehende Typen gafften von dort herüber. »… die da drüben würden bestimmt hier Döner essen, aber ihr haltet sie mit eurem Gegacker davon ab!«
»Wie sollten wir sie denn davon abhalten?«, fragte Nico gespielt entrüstet und machte ein paar testende Schritte in Mehmets Laden hinein. Die anderen folgten ihm in den Eingang.
Wie erhofft, regte sich Mehmet weiter auf. »Indem ihr hier rumlungert! Kaum einer kauft noch bei mir. Weder Türken noch Deutsche. Alles Scheiße!«
»Mehmet, das liegt aber nicht an uns. Die Türken kaufen deine Döner nicht, weil du Schweinefleisch da reinschmuggelst und die Deutschen kaufen sie nicht, weil du zu türkisch würzt. Du musst dich vielleicht mal entscheiden, was du sein willst.«
»Was sagst du da von Schweinefleisch?!«