EMOTION CACHING. Heike Vullriede

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EMOTION CACHING - Heike Vullriede

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fasste sich an den Arm. Er schmerzte und sie bereute ihre Kurzschlussreaktion mit dem Gips. Immerhin, es war ja so etwas wie ein großer Gefühlsausbruch gewesen. Mit der Gleichgültigkeit ihrer Mutter konnte nicht einmal sie mithalten.

      Durch die Zimmertür drang ein: »Du hast um 15 Uhr einen Termin in der Ambulanz! Sieh zu, wie du da hinkommst.«

      Anscheinend hatte sich ihre Mutter tatsächlich Gedanken um den zerbrochenen Gips gemacht und dort angerufen. Kim fragte sich, welche Lüge sie dem Arzt im Krankenhaus auftischen sollte. Sie konnte wohl kaum zugeben, dass sie aus Ärger über den Liebhaber ihrer Mutter den Gips auf die Küchenarbeitsplatte geschlagen hatte. Oder doch? Warum sollte nicht das heimische Krankenhauspersonal wissen, dass sie den Konrektor der Gesamtschule zu Hause nackt unter der Dusche erwischt hatte?

      Emotion Caching

      Ein Klopfen ihres Handys lenkte Kim ab. Benni schickte einen YouTube-Link in die Cliquen-Gruppe. Schneller als erwartet. Sie folgte dem Link und Sekunden später lachte sie auf der Matratze liegend laut auf. Die beiden Rechten machten eine ziemlich miese Figur auf dem Film. Herrlich, ihre erschöpften und ratlosen Gesichter, als sie auf dem Asphalt der Straße saßen und dann Mehmets Ausklopfen seiner Hände und sein ironisch freundliches »Gülle, gülle«. Sie saßen da wie Idioten. Verdient hatten sie es! Kim teilte das Video in dreizehn weiteren Gruppen, in die man sie gegen ihren Willen eingeladen hatte. Zu irgendetwas mussten sie ja gut sein. Ihre Laune hob sich mit jedem Drücken der OK-Taste und sie fühlte sich fast schon wie eine Menschenrechtskämpferin. Rechts fand sie schon immer verächtlich. Unfairness gegenüber Robert und politische Korrektheit waren allerdings etwas völlig Unterschiedliches. Die Sache mit Robert war privat. Und wer war hier überhaupt unfair? Niemand zwang ihn, sich in ihr Leben zu drängen. Da musste er schon mit Widerstand rechnen.

      Das Handy klopfte erneut. Benni schickte einen weiteren Link: Ihr Wortgefecht mit Haifisch auf der Kreuzung. Was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht.

      Kurz darauf hatte sie Benni am Ohr. »Hey, was soll das? Wir hatten doch gesagt, unsere eigenen Gesichter niemals in Nahaufnahme und schon gar nicht auf YouTube.«

      »Kim, mach dir keinen Kopf. Hast du den eingeschränkten Zugriff auf das Video nicht gesehen? Nur die Clique!«

      Kim lehnte sich wenig beruhigt zurück. »Trotzdem, verschieb es augenblicklich in unsere private Gruppen-Cloud. Ich will das nicht auf YouTube sehen! Jeder weiß, es braucht nur einen Klick von dir, um das mit dem Empfängerkreis zu ändern.«

      Sie biss sich auf die Lippen, denn sie wusste, solche Äußerungen brachten Benni nur auf dumme Gedanken.

      »Wir haben eine ganz schöne Sammlung bisher, findest du nicht? Wenn wir das alles öffentlich machen würden, könnten wir einen lustigen Kurzfilm draus basteln«, schwärmte er.

      Kim klickte sich durch die Titel in der privaten Cloud. Die Liste solcher Filmchen war tatsächlich lang. Szenen mit wildfremden Menschen, deren zufällige Missgeschicke sie aufgezeichnet hatten, um sich anschließend bei Chips und Bier darüber zu amüsieren. Es war so eine Art Wettbewerb unter ihnen entstanden, wer die witzigsten Videos erstellt und ihre eigenen waren oft die besten. Am Anfang hatte Benni alle Aufnahmen veröffentlicht. Tausende Hits hatten sie angestachelt, bei ihren Ausflügen stets nach dummen Pechvögeln auf der Straße zu suchen, an deren Schicksal man sich laben konnte. Doch das hatte bald zu Ärger mit angesäuerten Mitmenschen geführt, deshalb belustigten sie sich seitdem lieber privat daran. Dieses Video mit den rechten Schlägern in Mehmets Laden allerdings war nun für jeden zugänglich. Hoffentlich wusste Benni, was er da tat. Schon jetzt verteilte es sich über alle möglichen Netzwerke im Internet und es zeigte 448 Hits. Benni vertrieb es als Anti-Rechts-Kampagne – wie edelmütig von einem, der sich einen Kehricht um soziale Gerechtigkeit scherte. Zwei Nutzer hatten das Video jedoch abgewertet und monierten entschieden, weil der eine der zu Opfern gewordenen Täter an der Stirn blutete. Kim schnaubte. Vermutlich waren das so weltverbessernde Sozialarbeiter oder Pädagogen. Sie kannte solche Typen, die jedem gerecht werden wollten, nur nicht denen, mit denen sie gerade sprachen. Genau so einer war Robert. Immer musste er alles hinterfragen und kritisieren, konnte niemals eine Bauchentscheidung gelten lassen. Wenig überrascht stellte sie fest, dass die beiden Kritiker ihrerseits von dreiundzwanzig anderen Usern mit blöden Kommentaren bombardiert wurden.

      »Kim? Bist du noch dran?«

      Sie hatte Benni am Telefon ganz vergessen. »Mal was anderes, ich hab dir von Robert erzählt …«

      »… den Lover deiner Mutter … kommt der immer noch zu euch? Ist ja hartnäckig, der Kerl.«

      »Er nervt gewaltig. Er muss hier weg.«

      »Weg? Wie denn?«

      »Ich weiß nicht … man sollte ihm einen Denkzettel verpassen. Aber mir fällt nichts Passendes ein. Vielleicht sollte ich ihm ganz einfach meine Mutter schlecht machen.«

      Benni lachte auf. »Na, das sollte sich wohl machen lassen. Sag mal, als Haifisch dir drohte, dass er dich wie einen Katzenkadaver von der Straße kratzen will, war das da, wo er im Film diese blöde Fresse zeigte?«

      Kim lachte. »Ja, aber das ist nichts gegen sein Gesicht vorher hinter dem Lenkrad. Das hast du nicht gesehen von deiner Position aus. Es war nicht blöd – das war animalisch!«

      Als sie daran zurückdachte, an seine unkontrollierte Miene, die unbewusste Hervorkehrung tief im Inneren angestauten Hasses, an seine trommelnde Faust auf der Hupe – auf einmal empfand sie ein kurzes Frösteln, das über ihre Haut huschte wie ein scheues Tier. Es lief über ihre Arme und bewegte die feinsten Haare darauf. Ein ungewohntes Gefühl … Kim genoss diesen seltsamen kleinen Schauder. Er war prickelnd, berührend … »Ich wünschte, ich hätte das gefilmt. Echt, er sah aus wie ein Biest. Das hatte wirklich was! Ich würde es mir wieder und wieder ansehen.«

      Die Härchen auf ihren Armen legten sich langsam wieder an die Haut. »So was sollten wir filmen und nicht diese kleinen bedauernswerten Kasperfiguren, die zufällig über ihre eigenen Beine stolpern.«

      »Warum machen wir nicht so einen Wettbewerb, wer die krassesten Gesichtsausdrücke in der Kamera speichert?«, schlug Benni vor.

      Kim ging das nicht weit genug. »Es geht nicht einfach um Gesichtsausdrücke, so was haben wir doch schon zur Genüge; blöde Gesichter zu blöden Situationen in ebenso blöden Filmen oder Fotos. Es geht um Gefühle! Wir sammeln Gefühle.«

      »Gefühle sammeln?«

      »Ja, die Gesichtsausdrücke reichen nicht. Die Gesamtkomposition muss stimmen. Die Menschen müssen ganz in ihren Gefühlen aufgehen, sie müssen ihre Empfindungen herausschreien. Dann ist das mehr, als nur ein blödes Gesicht. Wir brauchen explodierende Emotionen voller Leidenschaft: Freude, Trauer, Hass, Entsetzen, Verzweiflung … Angst …«

      »Angst? … das wär was für mich. Ich glaube, ich sammle Angst.«

      Schnaubend stieß Kim Luft aus ihrer Nase. »Du wieder! Also, ich dann auch … nein, besser Hass oder Entsetzen. Verzweiflung wäre auch nicht schlecht. Auf jeden Fall starke Gefühle, die mir die Haut strubbelig machen. Im Ernst, warum machen wir es nicht wie beim Geocaching? Nur anstatt idiotischer Pseudo-Schätze wie Plastikdosen, Münzen und sonstigen Quatsch, sammeln wir echte Gefühle. Nennen wir es … Emotion Caching!«

      Benni überlegte kurz. »Emotion Caching? Klingt gut. Wir könnten sogar Koordinaten dazu austauschen. Das kann man ja fast eins zu eins umsetzen.«

      »Die

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