Das einfache Leben. Ernst Wiechert

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Das einfache Leben - Ernst Wiechert Klassiker bei Null Papier

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Stun­den und die müh­sa­men Jah­re. Wie ein Bau­er auf sei­nem Grenz­stein saß er da und hör­te zu, wie die Erde sich reg­te. Dies war ih­nen al­len doch ge­blie­ben, wie viel der Brand auch ver­zehrt ha­ben moch­te: die Füße still auf der küh­len Erde zu hal­ten und zu se­hen, wie die Ster­ne kreis­ten. Auch Joa­chim soll­te das ler­nen, so bald wie mög­lich, ehe sie ihn ver­der­ben mit ih­rer frag­li­chen Wis­sen­schaft.

      Erst als ihn zu frie­ren be­gann, stand er auf. Die La­ter­nen brann­ten im­mer noch, und ein dün­ner Ne­bel hing müde über dem Was­ser. Die nahe Stadt sah aus, als sei sie nur zu Gas­te bei die­sem Strom.

      Nie­mand sprach ihn mehr an auf der Heim­fahrt, und dann ging er auf Um­we­gen nach Hau­se, da­mit die Gäs­te schon fort wä­ren, wenn er käme. Doch fand er alle Fens­ter noch hell und kehr­te noch ein­mal um. Vom na­hen Kirch­turm schlug es Mit­ter­nacht, und er hör­te zu, wie der letz­te Klang in im­mer dün­ner wer­den­den Wel­len ver­ging. Dann fiel ihm et­was ein, und er ging schnell die we­ni­gen Stra­ßen zur Kir­che hin. Der Turm stand dun­kel in der hel­len Nacht, aber im Pre­di­ger­haus, hin­ter dem großen Gar­ten, wa­ren zwei Fens­ter noch er­leuch­tet.

      Tho­mas stieg über den nied­ri­gen Zaun und ging auf das Licht zu. Die Fens­ter la­gen zu ebe­ner Erde, und als der Kies un­ter sei­nen Schu­hen knirsch­te, trat oben ein Mann ins Licht. Er war dun­kel ge­klei­det, und Tho­mas mein­te noch nie­mals einen so großen, schwe­ren Men­schen ge­se­hen zu ha­ben. Er war noch nicht in der Kir­che ge­we­sen.

      »Es ist spät, Herr Pfar­rer«, sag­te er, »aber ich wür­de Sie gern noch ge­spro­chen ha­ben.«

      Der Geist­li­che beug­te sich schwei­gend vor, um das be­leuch­te­te Ge­sicht zu er­ken­nen. Dann trat er wort­los zu­rück, und Tho­mas hör­te ihn die kur­ze Trep­pe her­un­ter­kom­men, bis er die Haus­tür auf­schloss. »Tre­ten Sie lei­se auf«, sag­te er, »sie schla­fen schon alle.«

      Der große Raum war nur mit Bü­chern ge­füllt. Ein bäu­er­li­cher Chris­tus aus grau­em Holz hing le­bens­groß zwi­schen den Fens­tern. Tho­mas setz­te sich nicht ohne Ver­wir­rung, weil das Aus­maß der Fi­gur ihn er­schreck­te. Doch ließ der Pfar­rer sich nichts mer­ken und sah ihn nur ru­hig an. »Es kom­men man­che um die­se Zeit«, sag­te er, »Sie brau­chen sich nicht zu ent­schul­di­gen. Ich weiß dann we­nigs­tens, dass es ernst ist.«

      Nun erst sah Tho­mas ihn an. Sein Va­ter noch moch­te hin­ter dem Pflu­ge her­ge­gan­gen sein, aber es war wohl ein grüb­le­ri­scher Gang ge­we­sen, und in die­sem Sohn war es nun aus­ge­bro­chen. Stirn und Mund wa­ren zer­sorgt und zer­quält, aber über dem glat­ten grau­en Haar moch­te doch zu Zei­ten der­sel­be Schein ste­hen wie über dem Holz­bild an der Wand. Das Ge­sicht war zu­ge­schlos­sen, aber die Au­gen sa­hen ihn nicht ohne Freund­lich­keit an, alte und viel­wis­sen­de Au­gen, und Tho­mas fühl­te sich jung und tö­richt un­ter ih­rem Blick.

      Er seufz­te, be­vor er be­gann. »Ich bin kein Kir­chen­gän­ger, Herr Pfar­rer«, sag­te er ent­schul­di­gend.

      Der an­de­re er­hob nur die Hand. »Wir wol­len von den wich­ti­gen Din­gen spre­chen«, un­ter­brach er.

      »Auch die Bi­bel habe ich lan­ge nicht ge­le­sen«, fuhr Tho­mas fort, »seit mei­ner Ein­seg­nung nicht. Der Dienst war schwer, und es woll­te nie recht zu­sam­men­stim­men … Heu­te nun fand ich un­ter mei­nen Bü­chern den Psal­ter, eine ganz alte Aus­ga­be, groß ge­druckt, durch eine Erb­schaft wäh­rend des Krie­ges zu mir ge­kom­men. Ich habe dar­in ge­blät­tert und fand den neun­zigs­ten Psalm. Ich ent­sann mich wie­der, auf das meis­te we­nigs­tens, aber ein Vers war mir un­be­kannt. Als Kind liest man dar­über hin­weg, und auf Kin­der trifft er ja nicht zu. ›Wir brin­gen un­se­re Jah­re zu wie ein Ge­schwätz‹, steht dort ge­schrie­ben. Zu­erst las ich wei­ter, als sei es wie das üb­ri­ge, aber dann kehr­te ich gleich wie­der zu­rück und las ihn noch ein­mal. Und dann las ich nicht mehr wei­ter … es war wie ein Mast, der über einen stürzt, und man kann nicht auf­ste­hen un­ter ihm …«

      Der Pfar­rer nick­te. Er hat­te den Kopf in die rech­te Hand ge­stützt und Tho­mas un­be­weg­lich an­ge­se­hen. »Ja«, sag­te er, »Sie wer­den das na­tür­lich als einen Zu­fall be­zeich­nen, dass Sie ge­ra­de dies ge­le­sen ha­ben. Ich selbst, wenn es mir wi­der­fährt – und es wi­der­fährt mir oft –, ich sehe es na­tür­lich an­ders an. Ich weiß dann, dass ein sol­cher Vers ge­war­tet hat, bis es Zeit ge­wor­den ist. Ver­ste­hen Sie? Es ist nicht so, dass ein Mensch für sich lebt und ein Vers wie­der für sich und viel­leicht kreu­zen ihre Wege sich ein­mal. Son­dern es ist so, für mich na­tür­lich nur, dass der Vers auf sei­nen Men­schen war­tet und der Mensch auf sei­nen Vers. Aber wenn es sich er­füllt hat, ein be­stimm­tes Stück der Le­bens­bahn, ein Sturz oder ein Auf­stieg, oder auch nur eine be­stimm­te Düs­ter­nis und Ver­wir­rung, dann ist der Vers da. Er schlägt ge­wis­ser­ma­ßen das Buch auf, er selbst, er ent­hüllt sich, er stellt sich auf den Weg. Und dann kann man nicht her­um­ge­hen oder aus­wei­chen. Er ist wie Ei­sen, das zu­schlägt. Er hat uns … ist es nicht so?«

      »Ja«, sag­te Tho­mas lei­se, »er hat uns … so ist es.«

      »Und nun soll ich Ih­nen sa­gen, was Sie da­mit an­fan­gen sol­len, nicht? Der Vers be­drückt Sie, er ist wie ein lei­ser, dump­fer Schmerz, der im­mer da ist. Sie le­sen et­was an­de­res, oder Sie ge­hen spa­zie­ren, vie­le Stun­den lang, am Tage oder lie­ber in der Nacht. Oder Sie den­ken an Ska­ger­rak oder an das Ende. Aber er geht im­mer mit Ih­nen, er ist nicht mehr au­ßen, in ei­nem Buch, das in Ihrem Hau­se bleibt, wenn Sie das Haus ver­las­sen. Er ist schon in Ih­nen, in Ihrem Blut, ganz tief, Sie sind nicht mehr sein Herr.«

      »Ja«, sag­te Tho­mas, »so ist es.«

      »Sie müs­sen es nun so an­se­hen«, fuhr der Pfar­rer fort, »oder viel­mehr, es ist wohl rich­tig, wenn Sie es so an­se­hen: der Vers hat das Sei­ne ge­tan, er hat sich gleich­sam vom Tode auf­er­weckt, er ist für Sie auf­er­stan­den. Und nun fragt sich, ob Sie das Ihre tun wol­len. Ich will es nicht ›au­fer­ste­hen‹ nen­nen, denn das ist ein sehr großes Wort. Es fragt sich, ob Sie den Vers wie­der be­gra­ben wol­len, ihn er­wür­gen und zu­schüt­ten … ja, ich sag­te, ›er­wür­gen‹! Dann rührt er sich noch eine Wei­le, so wie das Kind bei Tol­stoj, wis­sen Sie? In der Nacht, wenn Sie aus ei­nem Traum auf­fah­ren, oder in ei­ner Ge­sell­schaft, oder viel­leicht, wenn Sie Ihren Jun­gen an­se­hen. Aber dann ist er still, so still wie vor­her. Er hat an­ge­klopft, und Sie ha­ben nicht auf­ge­macht. Sie ha­ben die Hun­de auf ihn ge­hetzt, und er ist tot. Für Sie ist er tot, ewig und un­ab­än­der­lich.

      Das ist der eine Weg. Der an­de­re ist eben­so klar, näm­lich, dass auch Sie nun das Ih­ri­ge tun, nicht wahr? Dass Sie eben auf­hö­ren da­mit, Ihre Jah­re zu­zu­brin­gen wie ein Ge­schwätz. Und wenn Sie das tun, dann ist der Vers still. Das heißt, sei­ne Mah­nung ist still, sein Vor­wurf, sei­ne Kla­ge. Er trifft nicht mehr zu für Sie, Sie ha­ben ihn er­löst. Im Mär­chen wird aus ei­nem Dra­chen eine Prin­zes­sin. Im Le­ben ist es so, dass man eben auf­hört, so zu sein. Dass man an­ders wird, kein Hei­li­ger und kein Pro­phet, aber eben an­ders, nicht?«

      »Ja«, sag­te Tho­mas, »aber wenn man nun das nicht so ohne wei­te­res kann … fromm wer­den, mei­ne ich, oder glau­ben, oder wie man es nennt …«

      »Fromm

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