Nord-Nordwest mit halber Kraft. Arno Alexander

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Nord-Nordwest mit halber Kraft - Arno Alexander

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schlug das blaue Aktenheft auf und las laut:

      „Erika Meissner, geb. Wundt, fünfundzwanzig Jahre alt, Tochter eines deutschen Gutsbesitzers aus dem Rheinland. Politisch unverdächtig. War verheiratet. Ihr Mann vor drei Jahren verstorben. Gesuch um Ausreise bewilligt. Reist in Begleitung von Ossip Prochorow (siehe Nr. 5). In Ordnung.“ Der Kapitän sah auf. „Nun, und?“

      „Sie heisst nicht Meissner, sondern Messner. Sie ist die Frau jenes Messner, dessen Selbstmord vor einigen Monaten in Kairo grosses Aufsehen erregte. Scotland Yard war dahinter gekommen, dass sich der Mann mit Opiumschmuggel befasste. Sein Haus war bereits von Kriminalbeamten umstellt, Flucht unmöglich — da griff er zur Waffe ...“

      „Was hat das alles mit der Frau und ihrer Reise zu tun?“

      „Scotland Yard sucht die Frau seit Monaten, weil sie ihrem Mann bei seinen verbotenen Geschäften geholfen haben soll ...“

      „Ist das bewiesen?“

      „Scotland Yard wird es beweisen.“

      Der Kapitän sagte eine Zeitlang nichts. Mit erregten Schritten ging er auf und ab. Dann blieb er vor Murphy stehen.

      „Woher wissen Sie das?“

      „Ich kenne die Frau.“

      „So!“ Kapitän Grady stampfte wieder zwei, drei Schritte durch das Zimmer. „Ich fange an zu begreifen“, sagte er. „Es war doch diese Frau, mit der sich der Zwischendeckpassagier unterhielt? Sie wollten sie allein sprechen, nicht wahr? Sie wollten sie warnen? Sie wollten ihr sagen, sie möge vorsichtig sein, da auf dem Dampfer unerkannt Inspektor Leith, der gefürchtetste Geheimpolizist Scotland Yards, mitreist. Habe ich recht?“

      „Nein, Kapitän“, versetzte der Offizier ruhig. „Ich habe keine Veranlassung, der Frau schon jetzt zu sagen, dass man sie in Bremen nicht von Bord lassen wird.“

      „Wer wird sie nicht von Bord lassen?“ rief Grady heftig.

      „Sie, Kapitän. Ich werde Sie zur gegebenen Zeit offiziell darum ersuchen.“

      Grady stopfte das blaue Aktenheft mit einer wütenden Bewegung unter einen Stoss Papiere.

      „Ich muss jetzt zum Abendessen“, sagte er kurz. „Sie haben Dienst, Mr. Murphy?“

      „Jawohl, Kapitän.“ Murphy griff an den Mützenrand, drehte sich hart auf dem Absatz um und ging hinaus. Er hörte den grimmigen Fluch seines Kapitäns nicht mehr, aber er wusste genau, dass Grady jetzt fluchte.

      *

      Als der Kapitän den Speisesaal betrat, war man schon beim Braten angelangt. Grady wurde freudig begrüsst, und er enttäuschte auch nicht die allgemeine Erwartung. Auf seinen Wink hin brachten zwei neuangeworbene malaiische Stewards Sektflaschen und Gläser herbei, und obwohl sie aus Mangel an Übung mit diesen Dingen ziemlich ungeschickt umgingen, gelang es ihnen doch nach einer Weile, ohne ernsteren Zwischenfall vor jeden Tischgast einen gefüllten Sektkelch hinzustellen. Der Kapitän stand auf und hielt die Rede auf das Wohlgelingen der Fahrt, deren einzelne Worte er besser kannte als das Vaterunser. In nichts unterschied sich diese Rede von den vielen, die er an diesem Tisch schon gehalten hatte, als im Ton, der heute rauher war als sonst. Mehrmals sah er während der Rede Erika an, aber nicht einmal dann, als sie ihm freundlich zulächelte, kam er ins Stocken. Manchmal, bei einer scherzhaften Wendung, unterbrach ihn ein kurzes Gelächter, und die Gesichter der Gäste leuchteten beifällig freundlich, sichtlich zufrieden mit der rednerischen Leistung des Kapitäns. Hätte aber jetzt jemand Grady unterbrochen, so wäre er hilflos steckengeblieben, da er nicht wusste, bei welcher Stelle seiner schönen Rede er war. Seine Gedanken waren in Bremen. Er sah alle diese Fahrgäste mit frohen Gesichtern den Dampfer verlassen, und nur eine nicht ... Erika nicht ...

      „Hoch, hoch, hoch!“, riefen die Passagiere und hoben ihre Gläser. Alle wollten mit dem Kapitän anstossen. Auch Erika kam auf ihn zu. Für eine Sekunde kreuzten sich ihre Blicke, dann drängten sich andere Menschen dazwischen, aber Kapitän Grady hatte plötzlich vom Anstossen genug. Er trank sein Glas auf einen Zug leer und setzte es allzu heftig auf den Tisch. Der Fuss brach ab, das Glas kippte um, und Scherben klirrten.

      Frau Professor Kaufmann war es, die sofort äusserte, Scherben brächten Glück. Man nahm es ihr nicht übel, denn hätte sie die Bemerkung unterlassen, so wären zehn andere bereit gewesen, dieselbe wichtige Feststellung zu machen. Ausserdem war man jetzt in bester Stimmung, und der Abend versprach wirklich hübsch zu werden.

      Einzelne Damen und Herren hatten Abendkleider angelegt, und auch die anderen, die das unterlassen hatten, machten einen festlichen Eindruck. Nur Wolfgang Diersch in seinem hellgrauen Anzug passte nicht recht zu dem Bild. Der Anzug sass schlecht, und die graue Farbe des Stoffs war nicht einheitlich, es schien fast, als hätte man an diesem Stoff neuartige Bleichversuche unternommen, die stellenweise auch durchaus gelungen waren. Mancher mitleidige Blick streifte den jungen Mann; er aber schien sich nicht im mindesten bemitleidenswert zu fühlen, denn sein Gesicht strahlte vor Glück. Die Ursache dieser Freude blieb niemandem verborgen: Wolfgang Diersch sass neben Erika, und diese Frau sah in ihrem dunkelblauen Abendkleid so verführerisch aus, dass mancher andere Mann Diersch um seinen Platz beneidete.

      „Wissen Sie auch, dass ich diesen Zufall, Ihre Nachbarin zu sein, ganz entzückend finde?“ wandte sich Erika an Diersch und sah sich ein wenig vorsichtig um, ob ihr Nachbar zur Rechten, Ossip Prochorow, diese Worte nicht gehört hatte.

      „Das freut mich riesig“, antwortete Diersch. „Aber Zufall ...? Wer sagt denn das? Ich habe ihm nachgeholfen! Drei Schillingstücke rollten in die sehnsüchtig geöffnete Hand eines Stewards, und schon gehörte mir der Platz ... Wie konnten Sie glauben, dass ich die Verleihung dieses Platzes einfach dem Zufall überlasse?“

      „Aber Sie hätten für Ihre Schillinge sicherlich eine bessere Verwendung finden können ...“

      „Ganz undenkbar“, widersprach er. „Und dann — wenn Sie recht hätten: ich habe ja noch fünf Schillinge ... “

      „Ist das alles, was Sie noch haben?“ fragte sie erschrocken.

      „Augenblicklich ja. Aber in Deutschland werde ich Arbeit bekommen und dann schnell reich werden ... Das heisst — ich will ja gar nicht reich werden, ich will nur, dass es mir gut geht ... Aber was haben Sie denn?“ Er sah sie erstaunt an, denn so deutlich wie ein Spiegel verrieten ihre Züge Verwirrung.

      „Ach, nichts ...“, wehrte sie ab. „Bitte, sprechen Sie weiter. Also Sie wollen, dass es Ihnen gut geht ...“

      Einen Augenblick lang sah er in ihr blasses Gesicht, aber es schien ihm jetzt ganz unbefangen zu sein. Wahrscheinlich hatte er sich vorhin getäuscht. Während er lebhaft von seinen nächsten Plänen erzählte, merkte er nicht, wie sich die Frau etwas nach der anderen Seite lehnte, und er spürte auch nicht, dass sie ihm eigentlich gar nicht mehr richtig zuhörte. So sehr sie sich aber bemühte, noch etwas von dem Gespräch Prochorows mit seinem Sekretär zu erlauschen, es gelang ihr nicht, die beiden sprachen zu leise. Nur die ersten Worte Prochorows hatte sie gehört: „Dieser Deutsche gefällt mir nicht. Der ist für uns gefährlich. Unser Plan —“ Mehr noch als diese Worte hatte ihr Ton sie verwirrt: es war ein herrischer, brutaler Ton gewesen, wie sie ihn an dem stets rücksichtsvollen Prochorow nicht gewöhnt war.

      Ignatjew kannte diesen Ton bedeutend besser. Und auch die Worte selbst hatten ihn nicht verwundert. Im Innern gab er Prochorow recht. Eine Weile hatte er nicht geantwortet und nur nachdenklich mit dem Teelöffel in der Nachspeise

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