Nord-Nordwest mit halber Kraft. Arno Alexander
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Читать онлайн книгу Nord-Nordwest mit halber Kraft - Arno Alexander страница 6
Grady, im Gefühl, dass alle von ihm etwas erwarteten, räusperte sich böse.
Prochorow beugte sich ein wenig vor.
„Was meinten Sie?“ fragte er liebenswürdig.
Grady schwieg. Seine kurzen, dicken Finger trommelten auf dem Tisch.
Prochorow sah sich um. Ein Steward war nicht in der Nähe. Da griff er mit der ringgeschmückten Hand nach dem Mundtuch, umwickelte damit den Hals der Weinflasche und schenkte selbst die Gläser voll. Grady richtete sich mit einem Ruck auf.
„Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen“, sagte er entschlossen.
„Bitte sehr: später“, erwiderte Prochorow und lächelte. „Erst wollen wir zusammen diese Flasche Wein austrinken. Ich bin doch Ihr Gast? Oder ..?“
„Allerdings ... Ja ... Die Sachlage hat sich aber inzwischen wesentlich verändert ...“
„Wieso?“ Prochorow zuckte die Achseln. „Inwiefern?“
„Wenn Sie es genau wissen wollen: Einen steckbrieflich verfolgten Verbrecher pflege ich einzusperren, nicht aber mit ihm Wein zu trinken.“
„Ach so! ...“ Prochorow lehnte sich nachlässig in seinem Stuhl zurück. Zwischen den Fingern drehte er eine Zigarette. „Ich finde es etwas überflüssig, auf einem Schiff jemanden einzusperren. Man kann doch nicht aussteigen, nicht wahr? Und dann ... Befinden wir uns hier auf einem deutschen oder auf einem englischen Dampfer?“
„Das hat nichts zu sagen ...“
„Bitte! Das hat sehr viel zu sagen. Ich habe lediglich gegen gewisse deutsche Verordnungen verstossen. England kann es völlig gleichgültig sein, dass ich deutsches Geld nach Ägypten gebracht habe. Ausserdem ...“
Da stand plötzlich Diersch auf.
„Herr Prochorow, ich hoffe, Sie werden den Mut haben, diese Worte auf deutschem Boden zu wiederholen ...“
„Ich werde hoffentlich nicht in die Verlegenheit kommen, mich — wie Sie sagen — auf deutschem Boden über diesen Fall zu unterhalten ...“
„Zu unterhalten? Gewiss nicht. Unterhalten wird sich mit Ihnen ein Deutscher überhaupt nicht mehr. Hier nicht und erst recht nicht in Deutschland ...“ Diersch wandte sich ab. Mit einer stummen Aufforderung sah er Erika an, dann drehte er sich um und ging hinaus.
Prochorow hatte den Blick Dierschs sehr genau gesehen, und er konnte über dessen Bedeutung keine Sekunde im Zweifel sein. Unter halbgesenkten Augenlidern hervor beobachtete er das wechselnde Mienenspiel im bleichen Gesicht der jungen Frau. Er wusste genau, was in ihr vorging. Auch sie wollte aufstehen und weggehen. Natürlich! ... Sie war ja eine Deutsche! Würde sie es wagen? Er hatte sie doch gewissermassen in der Hand ... Würde sie es wirklich wagen?
In dem Augenblick, als Erika die kleine Bewegung machte, die ihren Entschluss, aufzustehen, verriet, griff Prochorow ein:
„Willst du nicht ein wenig frische Luft schöpfen, Erika?“ fragte er zuvorkommend. „Du siehst recht angegriffen aus ... Bitte, ich habe nichts dagegen.“
Wortlos stand Erika auf und ging langsam durch den leise auf und nieder schwankenden Saal.
„Und nun, Kapitän, wollen wir in Ruhe noch ein Glas Wein miteinander trinken ...“ begann Prochorow, doch dann unterbrach er sich: „Oder glauben Sie immer noch, Veranlassung zu haben, mich einzusperren?“
Grady erhob sich.
„Nein“, sagte er frostig. „Aber ich habe auch keine Veranlassung, länger an diesem Tisch zu sitzen.“ Er verneigte sich knapp und stapfte davon.
Prochorow war allein. Vier gefüllte Weingläser standen vor ihm auf dem Tisch. Immer wieder musste Prochorow diese vier Gläser ansehen. Seine Augen waren klein und böse. Drei Menschen hatten ihn beleidigt, bewusst und mit Absicht. Er würde es nicht vergessen. Nicht oft hatte es jemand gewagt, Ossip Prochorow zu beleidigen, und wer es doch wagte, musste es bald bereuen. Dafür hatte Ossip Prochorow gesorgt. Was war nur in diese drei Menschen gefahren, dass sie ihn behandelten, als sei er ein Irgendwer? Vaterlandsliebe? Charakter? Für Prochorow waren das Begriffe, die wie jede andere Ware ihren Kurswert hatten, allerdings einen geringen Kurswert! Eine Handvoll, nein, zwei, drei seiner roten, grünen oder blauen Steine genügten, und es gab keine Vaterlandsliebe und keinen Charakter mehr. Schon morgen würde der Kapitän es sich zur Ehre anrechnen, mit ihm hier ein Glas Wein zu trinken, und dieser Diersch ...
Prochorow stand plötzlich auf. Er liess den Wein unberührt und ging hinaus. Nein, er glaubte nicht, dass dieser Diersch um ein paar Steine morgen seine Ansicht ändern würde. Der war verrückt, völlig verrückt. Hatte kein Geld und auch keine richtige Achtung vor dem Geld. Aber die Steine würden auch hier von Nutzen sein. Auf eine andere Weise, auf Umwegen sozusagen.
Meissner — Messner — dachte Prochorow, als er draussen an Deck vom ersten kühleren Windzug empfangen wurde. Nur ein Buchstabe war mehr da, und dieser eine Buchstabe hatte drei Rubine gekostet. Aber um dieses Buchstaben willen würde Diersch das tun, was er für zehn Rubine nicht getan hätte. ...
Prochorow kletterte die schmale Treppe hinunter, die zu den Schlafräumen führte. Vor Erikas Tür blieb er stehen und klopfte an. Als er keine Antwort erhielt, öffnete er die Tür, machte Licht und überzeugte sich, dass sie nicht in der Kabine war. Gut, dachte er und ging weiter. Also wird sie draussen mit diesem Diersch plaudern. Mochte sie! Er hatte genug für heute, morgen würde man weiter sehen.
Der Dampfer schwankte jetzt stark. Ein paarmal warf es Prochorow gegen die Wand, und manchmal war sein Schritt so schwer, als steige er einen steilen Berg hinauf. Da war seine Tür. Er öffnete sie, streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.
Da fühlte er, wie sich etwas Warmes auf diese Hand legte, sie mit eisernem Griff zusammenpresste. Gleich darauf blitzte es blendend weiss vor seinen Augen auf. Ein Schuss? Nein, es war nur eine Blendlaterne, die dicht vor sein Gesicht gehalten wurde.
„Keinen Laut, keine Bewegung“, sagte eine tiefe, offenbar verstellte Männerstimme. „Ich gehe jetzt hinaus, und Sie bleiben drei Minuten lang so stehen — ohne Licht zu machen. Drehen Sie am Schalter oder versuchen Sie, mir zu folgen, so schiesse ich Sie über den Haufen.“
Prochorow stöhnte. Vergeblich versuchte er, ein Wort zu sagen — seine Stimme gehorchte ihm nicht. Nur ein krampfhaftes Nicken liess erkennen, dass er den Fremden verstanden hatte und dass er sich fügte.
Plötzlich liess der Griff der heissen Hand los, und die Blendlaterne erlosch. Hastige Schritte entfernten sich, dann wurde es still.
Prochorow wartete. Als sich nichts rührte, schloss er die Tür und drehte das Licht an. Da sah er seine Koffer — geöffnet, durchwühlt. ... Aber nur um den einen Koffer war es ihm zu tun. Dort stand er — ebenfalls geöffnet. Mit zitternden