Nord-Nordwest mit halber Kraft. Arno Alexander

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Nord-Nordwest mit halber Kraft - Arno Alexander

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scheint arm zu sein“, antwortete Prochorow, und auch er sprach jetzt leiser. „Vielleicht ist da mit Geld was zu erreichen; wenn nicht —“

      „Versuchen Sie es“, riet Ignatjew.

      Prochorow nickte. Die beiden hatten einander verstanden.

      Das Abendessen war beendet, und die Stewards trugen leicht schwankend das Geschirr hinaus. Der Wellengang war mässig, und alle Passagiere befanden sich noch wohlauf. Die Gespräche, die am Tisch geführt wurden, neigten sich aber bereits bedenklich dem Hauptthema: Seekrankheit zu. Jeder wusste von einem unfehlbaren Mittel zu berichten, aber es fanden sich stets andere, die dieses Mittel längst versucht und als nutzlos befunden hatten.

      „Ich habe immer einen Kirschkern in den Mund genommen“, behauptete Frau Professor Kaufmann, „und ich bin noch nie seekrank geworden ...“

      „Sie hatten wohl immer gutes Wetter?“ erkundigte sich Scott mit seinem empörend gleichmütigen Gesichtsausdruck.

      „Wie meinen Sie das?“, fragte sie spitz. „Soll das heissen. Sie glauben ...“

      Der Kapitän wünschte keinen Streit, und er mischte sich lachend ein:

      „Meine Damen und Herren, ich finde, wir sprechen viel zu früh von Seekrankheit. Von dem bisschen Schaukeln da wird kein Mensch krank ...“

      „Meinen Sie wirklich?“ fragte Frau Professor Kaufmann und stand plötzlich beängstigend schnell auf. Ihr Gesicht war grünlich gelb, und ihr ganzes Streben ging im Augenblick dahin, rechtzeitig den Ausgang zu erreichen.

      „Verlieren Sie den Kirschkern nicht!“ rief Mr. Scott freundlich. Dieser Satz trug ihm einen giftigen Blick des kleinen schmächtigen Mannes ein, der neben Frau Professor Kaufmann gesessen und bis jetzt geschwiegen hatte. Der Blick war so ausdrucksvoll, dass Mr. Scott sich höflich vorneigte und fragte: „Sagten Sie etwas?“

      „Nein?“, erwiderte das Männchen böse. „Aber jetzt will ich Ihnen sagen, dass es unschön ist, wie Sie sich über diese kranke Dame lustig machen. Meine Frau ...“

      „Sie sind Professor Kaufmann?“ fragte Scott erstaunt. Er hatte geglaubt, dieser Professor sei sonstwo, nur nicht hier. „Der Mann, der den Vogel gefunden hat?“

      „Allerdings, und ich ...“

      Frau Professor Kaufmann trat wieder ein, und der kleine Mann verstummte jäh.

      „Ich muss mir den Magen verdorben haben“, meinte die Frau, deren Gesicht jetzt wieder einen rötlichen Schimmer zeigte. „Seekrankheit kann es nicht sein, denn der Kirschkern hilft immer ...“

      Ein älterer Herr mit einem kleinen grauen Spitzbart, der schon längst in einem offenbar wissenschaftlichen Buch las, blickte auf.

      „Meine Damen und Herren“, sagte er ernst. „Dies ist vielleicht meine fünfzigste Dampferreise, und ich kann daher wohl sagen, ich spreche aus Erfahrung. Es gibt wirklich nur ein Mittel gegen die Seekrankheit, allerdings ein ganz unfehlbares ...“

      „Nämlich ...?“

      „Mit der Eisenbahn fahren“, sagte der Mann mit dem Spitzbart und wandte sich wieder seinem Buch zu.

      Während alle Umsitzenden lachten, machte Frau Professor Kaufmann ein verärgertes Gesicht und erkundigte sich, wer denn dieser Herr sei.

      Der Schiffsarzt wusste Bescheid.

      „Professor Dr. Berwick, ein berühmter Gelehrter“, gab er Auskunft. „Er ist Ornithologe ...“

      „Ornithologe?“, rief Professor Kaufmann. „Der weltbekannte Berwick? Oh, ich muss ihn kennenlernen ...“

      Der Kapitän hob die Tafel auf, die Passagiere verstreuten sich und nahmen in einzelnen Gruppen an den verschiedenen kleinen und grösseren Tischen Platz. Der Kapitän hatte das Radio lauter gestellt, bat seine Gäste zu tanzen und drückte die Hoffnung aus, sie möchten sich alle gut unterhalten.

      Auch Diersch war aufgestanden. Ein wenig unschlüssig stand er neben Erika. Er war etwas traurig darüber, dass die nette Plauderstunde vorüber war. Plötzlich stand Prochorow breit und massig vor ihm.

      „Prochorow“, stellte er sich vor und lächelte liebenswürdig. „Herr Diersch, nicht wahr? Ja, ich hörte schon Ihren Namen ... Ja ... Was ich sagen wollte ... Wie wäre es mit einem kleinen Kartenspielchen?“

      Diersch überlegte. Es war vielleicht gar nicht dumm, wenn er mit Prochorow näher bekannt würde; dann hatte er gewiss mehr Aussichten, öfter in der Nähe dieser Frau zu sein. Aber es ging nicht.

      „Ich bedaure wirklich sehr, aber leider spiele ich nicht Karten“, sagte er.

      „Schade, wirklich schade ...“ Prochorow sah sich um, als suche er andere Partner. „Ach, was!“ rief er plötzlich. „Ich werde hier noch oft genug zum Spielen kommen. Würden Sie Frau Meissner und mir bei einer Flasche Wein Gesellschaft leisten?“

      Diersch nahm die Einladung dankbar an, und auch der Kapitän, an den sich Prochorow mit der gleichen Bitte wandte, schlug nicht aus.

      „Gern, sehr gern“, sagte er. „Aber die erste Flasche geht auf meine Rechnung. Das ist Bedingung. Hallo, Budal ...!“

      Der malaiische Steward eilte herbei. Mit halblauter Stimme gab Grady seine Anweisungen. Gleich darauf übertrug der Rundfunk von einem deutschen Sender einen ausgezeichnet gespielten Tango, und der Kapitän wandte sich an Erika.

      „Wollen Sie nicht tanzen, Frau Meissner?“ fragte er. „Allerdings nicht mit mir ... Ich tanze höchstens mal mit meiner Frau — sie wird nun bald sechzig — einen richtigen Walzer ... Diese neumodischen Sachen sind nichts für mich ... Nein, Herrn Diersch meine ich ... Er sieht schon ganz sehnsüchtig aus. Und — nebenbei bemerkt, wenn Sie tanzen, machen es die übrigen genau so ...“

      Diersch stand lächelnd auf und verneigte sich vor Erika. Während die Stewards Gläser und eisgekühlte Flaschen herbeischleppten, machte er die ersten vorsichtigen Schritte. Er merkte gleich, dass Erika vorzüglich tanzte, und wurde etwas mutiger. Allmählich kamen auch andere Paare auf die Tanzfläche, und der Kapitän hatte erreicht, was er wollte: er hatte seine Gäste in Stimmung gebracht.

      Der Tango war zu Ende, die Musik brach ab, und die Passagiere wollten eben an ihre Plätze zurückgehen, als ein „Achtung, Achtung“ des Rundfunkansagers sie aufhorchen liess.

      „Achtung, Achtung! Das Polizeipräsidium Berlin teilt mit, dass es gelungen ist, durch schlagartigen Zugriff die grösste bis jetzt entdeckte Devisenschieberbande zu verhaften. Lediglich das geistige Oberhaupt der Bande konnte nicht gefasst werden. Für seine Festnahme wird eine Belohnung von 5000 Mark ausgesetzt. Es handelt sich um den polnischen Staatsangehörigen Ossip Prochorow. Er ist sechsundfünfzig Jahre alt, wohlbeleibt, mittelgross, hat undichtes, schwarzes, hier und dort bereits ergrautes Haar, breites, bartloses Gesicht. Zweckdienliche Meldungen werden auf jedem Polizeirevier entgegengenommen.“

      Stille. Die Tanzpaare standen mit herabhängenden Armen und ratlosen Gesichtern da.

      Die Faust des Kapitäns sauste auf den Tisch, dass die Gläser klirrten.

      „Da soll doch gleich der Deibel ...“ fluchte er. „Diese Fahrt scheint ja unter einem besonders glücklichen Stern zu stehen! ...“

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