Grundlagenforschung. Anke Stelling

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Grundlagenforschung - Anke Stelling

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Angst, sagte die Gotel, ich nehm sie dir nicht weg. Ich hör dich gar zu gerne singen, den ganzen Tag im Turm, nur bei den hohen Tönen musst du noch üben, sonst kommt er nicht zurück, dein königlicher Kerl. Sprach’s und verschwand im Treppenhaus.

      Soviel zu Essen & Trinken. Beziehungsweise Trinken & Rauchen. Sobald die Kinder schliefen oder sich auch nur zehn Minuten am Stück mit sich selbst beschäftigten, musste Claudia sich eine anzünden. Um den Abstand zu sichern, die Erwachsenenwelt zu bewahren. Zwei Minuten Ruhe, zwanzig Züge Unabhängigkeit, Unverfügbarkeit, Selbstbestimmung. Warte, bis Mama die aufgeraucht hat! Die Zigarette gestattete es ihr stillzuhalten.

      Sie genoss die mahnenden Blicke der Mitmütter, deren Familienleben vorgezeichnet schien. Oh ja, sie war anders. War schlecht und schlampig. Keine Sandelförmchen im Gepäck! Zigaretten! Und der Kerl ein Tunichtgut, einer, dem man’s nicht ansah, dass er ein Ernährer war. Kein Kombi, ein Tourbus! Gut gemacht, Claudia!

      Röchelnder, rächender Raucherhusten. Die hohen Töne rückten in immer weitere Ferne, wurden ersetzt von schleimigem Auswurf. Die Kinder brachten seltene Grippeviren aus der Kita nach Hause, Claudia wurde krank. Vielleicht war’s auch weiterhin der Eisenmangel, Claudia aß Feldsalat, Feldsalat mit roten Beten, Feldsalat mit gerösteten Kürbiskernen, die sie der alten Gotel vorenthalten hatte. Die grüßte nicht mal mehr. War beleidigt. Claudia trank allein. Gläschen Wein am Abend, passend zur Zigarette.

      Ja, ja, du hast Recht. Es gab auch andere Seiten. Den Anblick der Kinder, wenn sie schliefen. Die kurzen Phasen zwischen den Grippeviren, wenn Claudia sich stark fühlte wie ein Pferd. Diesen Karren würde sie allein aus dem Dreck ziehen! In zwanzig Minuten konnte sie die komplette Wohnung auf Hochglanz polieren, Trinken & Rauchen, Glasreiniger & Backofenspray. Claudia war high. Steckte die Nase ins Küchentuch und sank auf das Sofa.

      Die alte Gotel, fragst du? Ja, das ist die, in deren Garten der Feldsalat wuchs. Die, die alles besser wusste, Claudias Nachbarin, Claudias Mutter, die Mitmütter, die Super-Nannies, die Kita-Tanten und so weiter. Eine, die die Kinder abholen würde, um dafür zu sorgen, dass sie nicht wurden wie Claudia, und nein, natürlich wünschte Claudia sich das nicht, Claudia würde nie im Leben auf ihre Kinder verzichten wollen. Ehrlich nicht. Ich muss es schließlich wissen.

      Es gab keinen Ausweg.

      Ohne Kinder hätte Claudia sich Kinder gewünscht. Mit Kindern wünschte sie sich den Tod.

      Diesen Ort, an dem sie aufwachen würde mit nichts als dem sanften Grundrauschen im Ohr, das erklingt, wenn die Musik vorbei ist. Oder noch nicht eingesetzt hat. Heiner wäre da, aber unaufdringlich, eine Hand in ihrem Haar, die sich abschütteln ließ, falls nicht der richtige Zeitpunkt war. Noch nicht, mein Liebling, lieber schlafen. Sie wusste ja, dass es so nicht sein würde. Der Tod war genau so grausam und unerbittlich wie ein Zweijähriger am Sonntagmorgen. Aufstehn!

      Sie fürchtete sich vor dem Tod. Was, wenn ihr alle Haare ausfielen? Die Parodontose fortschritt, das Hüftgelenk nicht mehr mitmachen wollte? Sie würde auf die mittleren Jahre zurückblicken wie auf eine besonders köstliche Zeit: junge Familie, die Kinder noch klein und unbeschwert. Nicht wirklich dank-, dafür aber noch formbar. Noch in dem Wunsch gefangen, ihre Freunde zu sein.

      Apropos Freunde: Nehmen wir die Menschen und teilen sie in Gut und Böse. Wobei wir feststellen müssen: Nichts währt für ewig!

      Heiner hat sich als Feind entpuppt, wohingegen die alte Gotel, unsympathische Vettel, mahnende Mitmutter dann doch noch ganz hilfreich war. Hat jeden Donnerstagabend die Kinder genommen, damit Claudia zu den Anonymen Alkoholikern gehen konnte, zur Gymnastik nach der Rückbildung, bei der die Hebamme dann schon ganz andere Töne anschlug. Wer jetzt nicht trainierte, würde inkontinent werden! Windeln tragen, wenn die Kinder längst aus den ihren hinaus wären! Beckenboden anspannen, absenken.

      Die neue Hebamme war knapp über sechzig, aber hart und braun und biegsam wie ein Ast. Techno statt Harfenklängen, Peitschenhiebe statt Räucherstäbchen. Claudia wurde ihr hörig.

      Anspannen! Absenken! Anspannen! Absenken!

      Sie trainierte bis zum Umfallen. Lag dann da.

      Die Hebamme drückte ihr die Hand in den Bauch. Was soll das sein, hä? Pudding oder Muskeln?

      Heiner wollte betrogen werden, anders war seine Abwesenheit nicht zu erklären, also ging Claudia mit der Hebamme ins Bett. Und fand heraus, dass sie den Beckenboden bislang an völlig falscher Stelle vermutet hatte.

      So, sagte die Hebamme und schüttelte die Laken auf. Claudia spürte in sich hinein. Dort? Oder dort? Was war das denn nun, was in ihrem Unterleib herumpolterte? Die Hebamme hob die Hände und sagte, na, was meinst du, wie viele Kinder hab ich damit schon zur Welt gebracht, hä? Tausend, über tausend, das letzte war Nummer Eintausendunddrei.

      Claudia erschrak. Da waren sie, die späten Jahre, in Gestalt der Hebamme und ihrer holzharten Hände. Liebe? Ist gleich Macht. Und Arbeit? Durchzählen. Achtunddreißig Jahre Berufserfahrung, Eintausendunddrei! Essen & Trinken? Gar nichts mehr. Der Kühlschrank der Hebamme war leer, sie zehrte aus sich selbst, war ein Baum, ein Kamel mit Höckern voll Reserven – im Passgang walzte sie durch die Wüste, stetig und gleichgültig. Als sie endlich doch noch schlief, nahm Claudia ihre Trainingstasche und ging nach Hause.

      Draußen nahte schon der Tag. Der Tourbus parkte vor dem Haus; Heiner hatte die Gotel, Gott sei Dank, längst abgelöst. Auf der Spüle welkte ein Häufchen Feldsalat in steifer Plastikschale vor sich hin, jene Sorte, die nie ein Feld gesehen hat und deshalb nicht gewaschen werden muss. Heiner war wieder da, und Claudia legte sich neben ihn, lauschte seinem knirschschienengedämpften Zähneknirschen, zählte die Sekunden, bis die Kinderzimmertür geöffnet wurde, pünktlich um halb sechs.

      Da standen sie, ihre Sonnenscheinchen, und zogen ihr erbarmungslos die Bettdecke weg.

      Was meinst du? Wie? Ich hab mich verfranzt?

      Ja, ehrlich, das stimmt. Und Claudia erst!

      Lange dauerten die Stunden von halb sechs bis halb neun, und schnell gingen sie vorbei, die Sekunden der Erkenntnis.

      Heiner, die Hebamme, die Hundewelpen und das Harken – in späteren Jahren würde sie darauf zurückblicken, denn immerhin stand es jetzt hier, schwarz auf weiß in der Grausamen Chronik. Ob das half? Sie wusste es nicht. Aber ihr Stichwort war nun mal Arbeit, und die war hiermit erledigt.

      Wenn du willst, kannst du weiterblättern.

       BEI DEN WÖLFEN

      Beim Holzholen ist Gunda heute Morgen ein großes Scheit auf den Handrücken gefallen. Jetzt hat sie einen Bluterguss mit einer kleinen, dunkelroten Blase obendrauf. Christian mag nicht hinsehen. Schon ohne Bluterguss nicht. Er sieht Gunda lieber als Ganzes. Einzeln betrachtet jagen ihre Körperteile ihm Angst ein, ganz besonders die Hände, trocken und fleckig; solche Hände haben alte Frauen, solche Blutergüsse auf dem Handrücken haben alte Frauen von den Infusionsnadeln, solche Hände mit solchen Blutergüssen werden über hellgelb bezogenen Krankenhausdecken gefaltet, wenn alte Frauen tot sind.

      Christian fegt den Kamin in der Küche aus. Wenn die anderen vom Spaziergang kommen, muss das Feuer brennen. Im Schein des Feuers und als Ganzes betrachtet, sieht Gunda keinen Tag älter aus als vierzig.

      Er knüllt Papier zum Anzünden zusammen. Hochglanzpapier brennt nicht gut, aber deutsche Zeitungen gibt es nicht im Supermarché in Gérardmer, nur den Stern und die Bunte. Vielleicht könnte er es morgen

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