77 versteckte Orte in Berlin. Johannes Wilkes

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77 versteckte Orte in Berlin - Johannes Wilkes

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Tempo, uns fror, wir wollten nach Hause, als wir den Schatten wahrnahmen, gerade noch rechtzeitig. Sie lag mitten auf dem Radweg. Regungslos. Eine Dame mit blondierten Haaren. Wir stiegen ab, berührten sie an der Schulter, sprachen sie an. Mühsam öffnete sie ihre Augen, erwiderte unseren Blick, nicht verwirrt, nicht verwundert, nur müde, sehr müde. Sie hatte getrunken, mehr als sie vertrug, das roch man. Musste auf dem Heimweg von irgendeiner Kneipe zusammengeklappt sein. Nun lag sie hier und machte keine Anstalten, aufzustehen. Was sollten wir tun? Die Sanitäter rufen? »Nein, nein«, sagte sie leise, »ich hab’s doch nicht weit, lasst mich liegen. Geht schon wieder.« Wir fragten nach, so erfuhren wir ihre Adresse, eine Querstraße, keine dreihundert Meter entfernt. »Wir bringen Sie heim.« So halfen wir ihr auf, hakten sie rechts und links unter, geleiteten sie über das Trottoir. Zum Glück schien sie sich nicht verletzt zu haben, ihr Gang aber war mehr als unsicher. Sie sah nicht aus wie jemand, der in U-Bahnhöfen schläft, im Gegenteil, sie machte einen gepflegten Eindruck. Die Kleidung geschmackvoll, Lippen und Lider dezent geschminkt, eine schimmernde Perlenkette, die Fingernägel sorgfältig lackiert. Dann begann sie zu reden. Es sei ihr Hochzeitstag, sie habe ihren Hochzeitstag gefeiert. Alleine. Ohne ihren Mann. Sie habe keinen Mann mehr, er hätte sie sitzengelassen. Es sei nicht seine Schuld, aber auch nicht die ihre. Man solle nicht immer nach der Schuld fragen, das sei ein Fehler.

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      Des Nachts auf der Otto-Suhr-Allee

      Wir hatten die Seitenstraße erreicht. Ihre Wohnung befand sich zum Glück im Erdgeschoss. Wir halfen ihr noch, die Tür aufzusperren. Als wir uns verabschiedeten, drehte sie sich nochmal um. Manchmal würden sich die Dinge so ergeben, das sei eben so. Aber dennoch, wenn man Hochzeitstag habe, müsse man doch feiern, nicht wahr?

      Otto-Suhr-Allee nahe Ernst-Reuter-Platz

      10585 Berlin

      9 Eichendorff-Denkmal vor der Eichendorff-Schule (Charlottenburg)

      Frühjahr 1842. Eichendorff verzieht das Gesicht. Er hatte den Vorsitz des zu gründenden Berliner Vereins zur Förderung des Dombauwerks zu Köln zu übernehmen und nun sollte er auch noch eine Chronik schreiben! Preußischer Beamter im Kultusministerium, ein elender Beruf. Wo bleibt der Freiraum für die Poesie? Ärgerlich schiebt er die Korrekturfahnen seines Taugenichts zusammen. Also dann, eine Chronik des Dombaus! Es wird Abend, bis er endlich die müden Glieder strecken kann. Erschöpft liest er sich das Ergebnis seiner Arbeit nochmals durch:

      »Kurze historische Übersicht des Kölner Dombaues von der ersten Grundsteinlegung bis jetzt (1842)

      Der erste Grundstein zu dem gegenwärtigen Kölner Dome wurde im Jahre 1248 am fünfzehnten August von dem Erzbischof Konrad Graf von Hochstaden gelegt. Nach dem ursprünglichen noch vorhandenen Entwurfe des Meisters Gerhard, der die französischen Dome genau studiert hatte […]«

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      Joseph-von-Eichendorff-Denkmal vor der Eichendorff-Schule in der Goethestraße 19–24

      Eichendorff stutzt kurz und streicht den Meister Gerhard wieder. Hinweise auf den französischen Ursprung der Baupläne passen wohl nicht so gut in die politische Landschaft.

      »[…] sollte dieser ganz aus Quadern auszuführende Bau 500 Fuß lang, im Schiff und Chor 180 Fuß, im Kreuz 290 Fuß breit werden, bis zum Dachfirst über 200 Fuß Höhe, und neben seinem Hauptportale zwei Türme von mehr als 500 Fuß erhalten.

      Schon die gleich folgenden Zeiten waren wegen innerer Zerwürfnisse aller Art dem Bau nicht günstig, doch konnte im Jahre 1322, also vierundsiebzig Jahre nachdem der erste Grundstein gelegt worden, am siebenundzwanzigsten September der hohe Chor eingeweiht werden.

      Die Säulen des Kreuzes wurden dann bis zu den Kapitellen der Seitenschiffe ausgeführt, die Tür zu dem nördlichen Kreuzflügel wurde angelegt, und am Schiffe und an den Türmen, besonders an dem südlichen, gearbeitet, der im Jahre 1437 bis zum dritten Geschoss fertig war, so dass die neuen Glocken in denselben versetzt werden konnten […]«

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      Eichendorff betrachtet eine Radierung, auf der die Bauruine zu sehen ist. Sieht schon traurig aus, der Bau! Der nördliche Turm ist nur ein Stumpen, wirkt, als wenn er in sich zusammengeschrumpft wäre.

      »[…] es ist derselbe, welcher den Kran, seit Jahrhunderten ein Wahrzeichen Kölns, trägt. Im Jahre 1735 wurden zwei von den drei über der Orgel befindlichen Giebelfenstern vermauert; von 1739 bis 1742 wurden mehrere den Dächern und Gewölben gefahrdrohende Turmpyramiden ausgebessert oder auch ganz abgetragen und mit ähnlichen Ausbesserungen wurde in den Jahren 1748–1751 und 1788–1790 fortgefahren.«

      So, denkt sich Eichendorff, jetzt wird es Zeit, politischer zu werden und die nationale Bedeutung des Bauwerkes herauszustellen.

      »Am schlimmsten wirkte sich in diesem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bei dem Kölner, wie bei fast allen altdeutschen Domen, der damalige sogenannte feinere italienische Baustil aus, der die wenigen verwendbaren Summen für ganz unpassende Verzierungen benutzte. Dann kam mit den französischen Kriegszügen eine schwere Zeit, in welcher während der Jahre 1769–1797 der Dom als Heumagazin diente. In der ganzen Epoche der nun folgenden französischen Herrschaft wurde nur ein Kostenanschlag über die notwendigsten Dachausbesserungen aufgestellt.«

      Jawohl, erst bekommen die Italiener, dann die Franzosen ihr Fett ab. Das wird den König freuen! Der Dom, eine französische Scheune!

      »So stand es um dieses kunstreiche, ehrwürdige deutsche Bauwerk, als das Rheinland von den Preußen besetzt wurde.«

      Moment, stopp, so kann er das unmöglich lassen, »von den Preußen besetzt«, nein, das klang nicht gut. Wer lässt sich schon gerne besetzen? Eine angenehmere Formulierung muss gefunden werden. Hm, wie wär’s damit?

      »So stand es um dieses kunstreiche, ehrwürdige deutsche Bauwerk, als das Rheinland mit der preußischen Monarchie verbunden wurde.«

      Seltsam, zwar freuten sich die Rheinländer über den Abzug der Franzosen, aber mit den neuen preußischen Herren fremdelten sie noch. Das braucht seine Zeit, denkt sich Eichendorff. Auch in seiner Heimat, dem katholischen Schlesien, hat es eine Weile gebraucht, bis man sich an die Preußen gewöhnt hatte. Jetzt noch ein Hinweis auf den großen preußischen Architekten, der halb Berlin gebaut hatte.

      »In welchem Umfang ein Ausbesserungsbau erforderlich sei, ergab sich erst nach wiederholten Untersuchungen, welche von unserem verewigten Schinkel mit ebenso großem Fleiße als eindringender Sachkenntnis vorgenommen wurden. Berechnungen ergaben, dass für die Vollendung des Bauwerks mit Kosten in Höhe von insgesamt fünf Millionen Talern zu rechnen ist. Zur Verwirklichung dieses Planes haben Seine Königliche Majestät schon durch die Allerhöchste Kabinettsorder vom sechsten November 1841 nicht nur für das Jahr 1842 eine außerordentliche Beihilfe von fünfzigtausend Reichstalern bewilligt, sondern auch Allerhöchstige Geneigtheit zu erkennen gegeben, für die folgenden Jahre ebenfalls einen jährlichen Zuschuss von dreißigtausend bis fünfzigtausend Talern zur Verfügung zu stellen, in der Erwartung, dass die von Einzelnen und Vereinen erfolgte Spendenbereitschaft auch weiter anhält.«

      Ja, der König! Er hat durchaus etwas übrig für die Kunst, ohne Zweifel! Da fällt Eichendorff ein, er wollte ihm doch noch einen seiner Gedichtbände zuschicken:

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