77 versteckte Orte in Berlin. Johannes Wilkes

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77 versteckte Orte in Berlin - Johannes Wilkes

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worauf kommt es an? All die Schreie der verletzten Kameraden klingen dem Arzt im Ohr. Wonach rufen sie, was flehen sie herbei, wenn sie im Sterben liegen? Die meisten rufen nur nach einem einzigen Menschen, rufen nach der Mutter, ihrer Mutter. Die Mutter soll da sein, soll sie in den Arm nehmen, soll trösten. So wie damals als Kind, wenn man Kummer hatte und Schmerzen litt, wenn man nicht mehr weiter wusste. Die Mutter soll da sein. Dann wird alles wieder gut, dann wird alles, alles wieder gut.

      Kurt Reuber beginnt zu improvisieren. Als Papier nimmt er eine Landkarte von Russland, als Stift ein Stück Kohle. Damit beginnt er zu zeichnen, zeichnet ein unendlich zartes, ein geschlossenes Bild, zeichnet nichts anderes als Maria mit dem Kind. Maria hat sich hingesetzt, hält in ihren Armen ihr neugeborenes Kind, hält es eng, hält es warm. Die Gesichter sind einander zugewandt. Um sich und das Kind hat Maria einen Mantel geschlungen, einen Schutzmantel. Ein Bild des Friedens und der Innigkeit. So dünn der Stoff des Mantels auch sein mag, so schützt er doch, hält alles ab, was droht und ängstigt: die Nacht, den Schrecken, den Hass, den Tod. Innerhalb dieses Mantels gibt es nur drei Dinge: Licht, Leben und Liebe. Das ist Weihnachten, das ist die Weihnachtsbotschaft. Kurt Reuber schreibt die Worte neben die Zeichnung: Licht, Leben, Liebe. Dann stellt er das Bild auf und feiert mit den anderen die Heilige Nacht. Für seine Frau notiert er über dem Bild: »Schau in dem Kind das Erstgeborene einer neuen Menschheit an, das unter Schmerzen geboren, alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt.«

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      Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

      1943 gerät Kurt Reuber in russische Kriegsgefangenschaft und wird in ein Lager transportiert. Dort arbeitet er weiter als Arzt, versorgt die mitgefangenen Kameraden. Der Hunger schwächt die Gefangenen, die hygienischen Verhältisse sind desolat. Seuchen brechen aus, es fehlt an allem, an Nahrung, an sauberem Wasser, an Medikamenten. Kurt Reuber steckt sich an, wird selbst zum Patienten, bekommt hohes Fieber. Flecktyphus. Es geht über seine Kräfte, am 20. Januar 1943 stirbt Kurt Reuber im Lager.

      Und sein Bild? Die Stalingradmadonna? Mit einer letzten Transportmaschine, einer JU 52, wurde es in den Händen eines schwerverwundeten Wehrmachtoffiziers in die Heimat geflogen. Der verletzte Soldat brachte es zu Kurt Reubers Frau.

      Viele Jahre später. Bundespräsident Karl Carstens erfährt von dem Bild. Auf seine Anregung wird es am 26. August 1983 der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nahe des Berliner Bahnhofs Zoo übergeben. Betritt man den Neubau der Kirche, diesen in tiefes Blau getauchten Raum, so findet man sie auf der rechten Seite, die Stalingradmadonna.

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      Innenraum der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (Nachkriegsbau)

      Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

      Breitscheidplatz

      10789 Berlin

      Auguste-Viktoria-Schule (Charlottenbrug)

      Das Schultor war schwer, erinnerte sich Marlene Dietrich. Man hatte das kleine Mädchen zu früh eingeschult, bereits 1907, sie musste sich mit ihrer ganzen Kraft gegen das Tor stemmen, um es zu öffnen. Schon in der Früh, wenn sie die elterliche Wohnung in der Kaiserstraße verließ und zur Auguste-Viktoria-Schule in der Nürnberger Straße lief, war ihr flau im Magen. Fiel die Schultür hinter ihr wieder zu, fühlte sie sich wie gefangen und die Angst stieg in ihr auf. Nicht, weil das Lernen ihr schwergefallen wäre, im Gegenteil, sie konnte ja schon lesen und schreiben. Marlene hatte vor anderen Dingen Angst: vor den Lehrern und ihren Strafen, vor dem Verlust der Freiheit, vor der Einsamkeit vor allem. Einsam blieb sie nicht nur, weil sie so jung war, einsam blieb sie wegen ihrer natürlichen Scheu, sich einer Gruppe anzuschließen. Unterhielten sich die Kameradinnen in der Pause, tuschelten und alberten sie herum, blieb Marlene alleine. Sie litt darunter, obwohl sie nichts danach drängte, dazuzugehören. Zwar war sie eine gute Schülerin, jedoch ohne Freude am Unterricht. Bereitwillig ließ sie ihre Mitschülerinnen abschreiben, doch auch dadurch änderte sich nichts, sie blieb die stille Beobachterin, die sich nur eines herbeisehnte: die Glocke, die das Ende des Unterrichts bedeutete. Als Gefängnis empfand sie die Schule. Sie sehnte sich nach einem Menschen, der sie verstand, der zu ihr hielt und ihr die Einsamkeit nahm.

      Eines Tages, als das schlanke Mädchen mit dem rotblonden Haar in der Pause alleine an einem der großen Fenster des langen Flurs stand und traurig in den Regen blickte, trat eine Lehrerin an ihre Seite, sah eine Weile mit ihr gemeinsam hinaus und sagte dann mit leichtem französischem Akzent: »Hast du einen ernsten Grund dafür, traurig zu sein?«

      Marlene schüttelte den Kopf.

      »Dann ist Traurigsein eine Sünde.«

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      Auguste-Viktoria-Schule, ehemalige Schule von Marlene Dietrich in der Nürnberger Straße 63

      Es klingelte, die Pause war vorüber und die Lehrerin ging fort. Marlene sah ihr nach. Madame Breguand hatte dunkle Augen und trug ihr schwarzes Haar zu einem lockeren Knoten gebunden. Ihre Worte hatten großen Eindruck auf Marlene gemacht und verwunderten sie zugleich. Madame Breguand kannte sie doch kaum, hatte sie bislang nicht als Schülerin gehabt. Warum hatte sie sie angesprochen?

      Ob Madame Breguand mehr gewusst hatte, als die kleine Marlene vermuten konnte? Ob sie gewusst hat, dass Marlene bereits Halbwaise war, dass ihr Vater, der schönste Polizist von Berlin, nach langem Leiden verstorben war? Ob sie ahnte, was Marlene mitgemacht hatte, als sie den geistig umnachteten Vater in der Klinik besucht, ihm zum Abschied die gelbe Haut gestreichelt hatte? Dass man ihr eingetrichtert hatte, ein echtes Berliner Mädchen würde nicht weinen?

      Madame Breguand kam jetzt in jeder Pause vorbei, um ein wenig zusammen zu plaudern. Sie war entzückt, als sie hörte, wie gut Marlene schon Französisch konnte. Interessierte sie sich für Marlene, weil sie deren Einsamkeit spürte, weil sie merkte, dass Marlene anders war? Marlene blühte auf. Zum ersten Mal ging sie gerne zur Schule, zum ersten Mal fiel es ihr leicht, das Schultor zu öffnen. War die Pause vorüber, half sie Madame Breguand, die Bücher zu tragen, sprach ein paar Sätze Französisch mit ihr. Bevor sie die Tür zum Klassenzimmer schloss, sah die Lehrerin Marlene noch einmal dankbar an. So leicht war Marlene dann zumute, sie hätte jubeln, hätte singen können. All ihr Bestreben war es nun, ihrer neuen Freundin Zeichen der Dankbarkeit zukommen zu lassen. Sie lernte immer neue Vokabeln, machte ihr heimlich Geschenke: ein blau-weiß-rotes Band, das die Mutter auf einem Ball getragen hatte, einen Strauß Maiglöckchen, leuchtenden Klatschmohn zum 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag. Als Marlene ihrer Lehrerin ein Parfum kaufen wollte, aber schritt die Mutter ein. Ein solch teures Geschenk würde nur für Verlegenheit sorgen. Oft wartete Madame Breguand nach dem Unterricht noch mit Marlene vor der Schule auf deren Gouvernante. Hoffentlich verspätet sie sich heute, wird sich Marlene heimlich gewünscht haben.

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      Nicht nur für Blaue Engel: Budapester Straße 2

      Marlenes Glück war perfekt, als sie ihren Schutzengel endlich zur regulären Lehrerin bekam. Bei ihr im Unterricht zu sitzen, ihre Stimme zu hören, Geschichten und Märchen aus Frankreich zu lauschen, kein größeres Glück konnte sich Marlene denken. Auch wenn Madame Breguand sie im Unterricht nicht anders behandelte als die Mitschülerinnen, spürte Marlene doch das geheime Band der Sympathie, das jede Französischlektion zum Fest werden ließ.

      So

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