Nebra. Thomas Thiemeyer

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Nebra - Thomas Thiemeyer Hannah Peters

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zu ihr herüberstarrte. Zuerst dachte sie, er würde vielleicht das Café betrachten, immerhin war es ein hübsches und traditionsreiches Gebäude. Aber ihr wurde schnell klar, dass er sie meinte. Hannah tat das, was sie in solchen Situationen immer tat: Sie starrte zurück. Die meisten Männer ertrugen es nicht, wenn sie zu einem Blickduell herausgefordert wurden. Meistens schwirrten sie ab, noch ehe ein unfreundliches Wort gefallen war. Nicht so dieser Typ. Geduldig hielt er ihrem Blick stand. Mehr noch, er nahm seine Kamera und fing an, sie zu fotografieren. Hannah griff nach der Harzer Volksstimme, die auf dem Nachbartisch lag, und hielt sie sich demonstrativ vors Gesicht. Interesse heuchelnd, blätterte Hannah zuerst durch den Mantel, dann durch den Wernigeroder Lokalteil. Als sie bei den Todesanzeigen angekommen war, wagte sie einen Blick über den Rand. Der Typ war verschwunden. Erleichtert ließ sie die Zeitung sinken und widmete sich ihrem Gedeck. Komische Person. Eine Unverschämtheit, sie so dreist zu fotografieren. Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre sie zu ihm rübergegangen und hätte ihm ihre Meinung gesagt. Sein Glück, dass er so schnell verschwunden war. Na ja, es gab immer ein paar Verrückte, hüben wie drüben. Kaffee und Kuchen mundeten vorzüglich und füllten auf angenehme Weise ihren Magen. Als sie zahlte und ihre Neuerwerbungen zurück in die Tasche steckte, hatte sie den Mann schon fast wieder vergessen. Ihr fiel ein, dass sie sich ja noch mit seichter Lektüre versorgen wollte. Die Begegnung mit dem attraktiven Buchhändler hatte sie ziemlich verwirrt.

      Es war kurz vor achtzehn Uhr, als sie wieder vor der Tür des Buchladens stand. Die kleine spröde Frau, bei der sie gezahlt hatte, schickte sich gerade an, die Tür abzuschließen. Mit einem entschuldigenden Lächeln und einem freundlichen Augenaufschlag schlängelte sich Hannah an ihr vorbei. »Es geht ganz schnell«, gab sie ihr zu verstehen. »Nur noch etwas zu lesen für die Nacht.«

      »Einen Roman?« Im Licht des Ladens wirkte die Frau deutlich älter. Sie betrachtete Hannah mit kleinen Augen über den Rand ihrer Brille hinweg, ohne dabei ihren Posten neben der Tür aufzugeben. Man konnte ihr ansehen, dass sie Feierabend machen wollte.

      »Einen Roman, ja.« Hannah blickte sich um. »Irgendetwas Leichtes, Humorvolles.«

      »Taschenbuch oder gebunden?«

      »Taschenbuch, bitte.«

      Seufzend gab die Frau die Tür frei und kam auf Hannah zu. »Hier drüben haben wir die aktuelle Bestsellerliste. Da ist auch meist etwas Lustiges dabei.«

      Hannah bekreuzigte sich innerlich. Ob ihr Humor mit dem der Buchhändlerin kompatibel war, war mehr als fraglich. Sie gab sich einen Ruck und stellte die Frage, die sie längst hatte stellen wollen: »Wo ist denn eigentlich Ihr Kollege?«

      Die Augen hinter den Brillengläsern wurden noch eine Spur kleiner. »Kollege?«

      »Ja, der große, gutaussehende.«

      »Ich arbeite hier allein.«

      »Sind Sie die Inhaberin?«

      »So ist es. Kempowski mein Name.«

      »Aber wer war dann der Mann, der mich vor etwa zwei Stunden bedient hat? Dunkelhaarig, Brille, markante Narbe unter dem rechten Auge.«

      Die Buchhändlerin zuckte die Schultern. »Kenne ich nicht. Ein Kunde vielleicht. Ich müsste dann jetzt schließen.«

      Völlig verwirrt griff Hannah ins Regal und zog ein Buch heraus, dessen Titel und Umschlag eine einigermaßen unterhaltsame Lektüre verhießen.

      »Dieses hier?« Frau Kempowski nahm ihr das Buch aus der Hand und eilte an die Kasse. Sichtlich erleichtert darüber, die aufdringliche Kundin endlich loszuwerden, kassierte sie und entließ Hannah mit einem ungeduldigen Kopfnicken.

      Draußen vor der Tür warf Hannah einen letzten Blick zurück in den Laden. Wer mochte der Unbekannte gewesen sein? Sie konnte nur hoffen, dass sich ihre Wege noch einmal kreuzten.

       [home]

      11

      Den Dienstag hatte Hannah als Ausflugstag vorgesehen. Gewiss, sie stand unter Zeitdruck, aber auf einen Tag mehr oder weniger kam es nicht an. Es war wichtig, dass sie den Kopf wieder frei bekam. Was also konnte sinnvoller sein, als das herrliche Wetter zu nutzen und eine Wanderung auf den Brocken zu machen? Vielleicht bekam sie auf der höchsten Spitze Norddeutschlands ja eine plötzliche Eingebung?

      Sie fuhr mit dem Auto nach Schierke, beschloss, den Wagen dort abzustellen und den nahen Wanderweg zur Spitze des Brockens zu nehmen. Die Strecke war ebenso schön wie einfach. Genau das Richtige, um abzuschalten. Teils asphaltiert, teils sich über Felsen und Wurzeln schlängelnd, mäanderte dieser wohl bekannteste Wanderweg des Harzes über zehn Kilometer hinweg bis zum Gipfel. Er führte durch moorige Abschnitte und einen märchenhaft anmutenden Fichtenhochwald, vorbei an Bergbächen und Granitfelsen. Hannah spürte, wie sie in der merklich kühler werdenden Luft zu keuchen begann. Damals, als sie noch in der Sahara gelebt und gearbeitet hatte und jeden Tag auf irgendwelche Felsen geklettert war, hätte sie ein solcher Spaziergang nicht aus der Puste gebracht. Jetzt aber musste sie ihre Wanderung mehr als einmal unterbrechen, um sich auf eine Bank oder einen Stein zu setzen, zu verschnaufen und etwas zu trinken beziehungsweise etwas von ihrem Proviant zu verzehren. Zum Glück hatte sie großzügig gepackt, denn als sie nach etwa drei Stunden oben auf der Kuppe anlangte, war von ihrem Vorrat nichts mehr übrig.

      Der Wind zerrte an ihrem leeren Rucksack, als sie die letzten Meter bis zu der Metalltafel zurücklegte, auf der der höchste Punkt des Berges vermerkt war. Elfhundertzweiundvierzig Meter. Kurioserweise hatte sich bei einer Neuvermessung 1990 herausgestellt, dass der Brocken in Wirklichkeit nur knappe elfhunderteinundvierzig Meter hoch war. Eine alarmierende Nachricht, mit der schrecklichen Konsequenz behaftet, unzählige Landkarten neu drucken zu müssen. Man entschied sich dann aber für die kostengünstigere Alternative und spendierte der Kuppe fünf Granitblöcke, die das Niveau anhoben und an denen sich die betreffende Bronzetafel befestigen ließ. So gesehen, war der Brocken ein naher Verwandter des Garth Mountain in Wales, einem Berg, dem englische Kartographen im Jahre 1917 bescheinigt hatten, mit seinen neunhundertfünfundachtzig Fuß nur ein Hügel zu sein. Ein Sakrileg in den Augen der landestreuen Waliser. Ihm fehlten ganze fünfzehn Fuß, um per Definition als Berg durchzugehen. Unter Einbeziehung der Einwohner eines nahe gelegenen Dorfes wurde ein Erdhügel aufgeschüttet, der dem Garth wieder zu seinem Gardemaß verhalf. Eine Initiative, die vom ortsansässigen Pfarrer und dem Bürgermeister ins Leben gerufen worden war.

      Hannah schüttelte im Geiste den Kopf. Männer und ihr Faible für Maße, das war nun wirklich eine unendliche Geschichte. Interessant in diesem Zusammenhang war jedoch, dass der Garth einige sehr interessante Grabstätten aus der frühen bis mittleren Bronzezeit beherbergte, Gräber, die viertausend Jahre alt waren. Ob es wohl um den Brocken ähnlich bestellt war? So abwegig war der Gedanke nicht. Kelten und andere bronzezeitliche Kulturen hatten sich seit jeher exponierte Orte für ihre Kultstätten ausgesucht. Was wäre das für eine Sensation, wenn sich hier ebenfalls Grabanlagen befänden. Grabanlagen, die vielleicht sogar in irgendeinem Zusammenhang mit der Himmelsscheibe standen. Das wäre genau das, was ihren Hals aus der Schlinge retten könnte.

      Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie erst nach einer Weile bemerkte, wie kalt es hier oben war. Das Thermometer in Wernigerode hatte an diesem Morgen fünfzehn Grad in der Sonne angezeigt, hier oben mussten sich die Temperaturen um den Gefrierpunkt bewegen. Trotz ihrer Jacke zitterte sie wie Espenlaub. Solange sie sich bewegt hatte, war die Temperatur kein Problem gewesen, doch jetzt, beim Herumstehen, bohrte sich der Wind durch das Kleidungsstück. Sie beschloss, ihren Aufenthalt hier oben so kurz und so effektiv wie möglich zu

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