Nebra. Thomas Thiemeyer

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Nebra - Thomas Thiemeyer Hannah Peters

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wieder talabwärts. Keinen Moment zu früh, wie Hannah feststellte, denn je weiter sie abstieg, desto mehr Menschen begegneten ihr. Getrieben vom Hunger und in der Hoffnung, in der Brockenherberge noch einen freien Tisch zu ergattern, schoben sich die Massen nach oben. Es begann voll zu werden auf Deutschlands nördlichstem Berg.

      Hannah gönnte sich einen kleinen Abstecher entlang der Heinrichshöhe und der Brockenkinder, einigen sehr malerisch anmutenden Granittürmen. Vom Tal her schnaufte ihr die Brockenbahn entgegen, beladen mit älteren Leuten und Kindern. Die kleine Lokomotive hatte schwer zu tun, denn die Waggons waren gut besetzt. Die ersten schönen Tage in diesem Frühling trieben die Leute in Scharen auf die Spitze. Wohin man sah, überall nur fröhliche, gerötete Gesichter. Alle schienen sich zu amüsieren – alle außer Hannah. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, am heutigen Tag einfach nur auszuspannen, ließ sich der Gedanke, in kurzer Zeit etwas finden zu müssen, das Feldmanns hohen Ansprüchen genügte, einfach nicht abstellen.

      Wenn sie bloß eine Ahnung gehabt hätte, wo sie anfangen sollte.

      Resigniert startete sie den Motor und überließ ihren Parkplatz einem gestresst wirkenden Familienvater und seinen quengelnden Kindern.

       [home]

      12

      Der Abend begann mit einem Meer aus Flammen. Entlang des steilen Anstiegs zum Wernigeroder Schloss waren Fackeln entzündet worden, die das alte Gemäuer und die umliegenden Parkanlagen in ein magisches Licht tauchten. Auf Anraten ihrer Wirtin hatte Hannah sich entschieden, den Abend mit einem Konzert ausklingen zu lassen. Russische Romantik: Borodin, Glinka und Mussorgski. Genau das Richtige für eine sagenumwobene Gegend wie diese.

      Als sie schwer atmend auf der großen Freiterrasse vor dem Schloss ankam und über die Stadt hinweg zum Brocken blickte, bemerkte sie ein merkwürdiges Leuchten, als würde hoch oben ein Feuerwerk abgebrannt. Es sah wunderschön und bedrohlich zugleich aus.

      Hannah wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem bevorstehenden Konzert zu. Sie passierte einen schmalen Durchgang, kaufte sich eine Karte und betrat das Schloss. Das Konzert selbst fand im Innenhof unter freiem Himmel statt. Der bewegliche Baldachin, eine Konstruktion, die Musiker und Zuhörer gleichermaßen vor den Tücken des Wetters schützen konnte, war zusammengefaltet und erlaubte einen freien Blick in den Himmel. Die Nacht war so klar, dass man die Sterne funkeln sehen konnte. Der Innenhof quoll bereits über von Menschen. Vor dem Hauptturm war eine Bühne errichtet worden, die bequem Platz für das vierzigköpfige Orchester des Nordharzer Städtebundtheaters bot. Fackeln und Wärmestrahler entlang der Innenmauern sorgten für Behaglichkeit und Atmosphäre in dem komplett bestuhlten Innenhof.

      Hannah bemerkte, dass sie zu den zwanzig Prozent meist jugendlicher Zuhörer gehörte, die in Jeans und Pullover gekommen waren. Der überwiegende Anteil war, dem festlichen Anlass angemessen, in Abendgarderobe erschienen. Die Damen in rauschenden Kleidern, die Herren im eleganten Smoking. Hannah schämte sich etwas, dass sie wie Aschenputtel herumlief, aber was hätte sie tun sollen? In ihrem Aufenthalt in Wernigerode war ein Konzertabend nicht vorgesehen gewesen, und für einen Einkauf war es zu spät gewesen. Der enganliegende schwarze Rollkragenpullover, die Jeans und die schwarzen Turnschuhe waren das Beste, was ihr zur Verfügung stand. Immerhin hatte sie daran gedacht, ihr Tuareg-Collier, eine Silberarbeit mit rotem Jaspis und Ebenholz, mitzunehmen. Zusammen mit einem anderen Mitbringsel aus der Sahara, ihren Ohrringen aus Silber und Lapislazuli, fühlte sie sich zwar nicht passend, aber zumindest halbwegs festlich gekleidet.

      Die Wirtin hatte nicht übertrieben. Der Andrang auf die Karten war enorm gewesen, und es hatte keine halbe Stunde gedauert, bis das Konzert ausverkauft war. Hannah bedauerte die vielen Menschen, die enttäuscht heimkehren mussten. Andererseits freute sie sich über das Privileg, zu den etwa dreihundert Zuhörern zu gehören, die an der ungewöhnlichen Veranstaltung teilnehmen durften. Sie wollte sich gerade auf die Suche nach einem geeigneten Sitzplatz begeben, als sie ein Räuspern vernahm.

      »Guten Abend«, sagte eine Männerstimme. »Wie schön, Sie wiederzusehen.«

      Hannah wandte sich der Stimme zu.

      »Der Buchhändler«, entfuhr es ihr. Und dann, nach einer kurzen Pause: »Aber nein. Sie sind ja gar kein Buchhändler. Jedenfalls nicht bei Kempowski.«

      Ein zaghaftes Lächeln huschte über das Gesicht des Mannes.

      »Habe ich das je behauptet?«

      Hannah musste kurz überlegen. Nein, er hatte recht. Sie war es gewesen, die ihn angesprochen hatte.

      »Nicht wirklich«, gestand sie ein. »Aber Sie können sich meine Überraschung vorstellen, als ich in den Laden zurückkehrte und nach Ihnen fragte.«

      »Sie haben sich nach mir erkundigt?« Der Mann hob die Augenbrauen. »Warum?«

      Hannah spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Sie wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch der Fremde schien ihre Verlegenheit bemerkt zu haben und kam ihr zu Hilfe.

      »Ich bin tatsächlich kein Buchhändler«, sagte er. »Nur ein ganz normaler Kunde. Tut mir leid, wenn ich durch mein Auftreten den Eindruck erweckt habe, ich würde zum Personal gehören.«

      Hannah warf ihm einen interessierten Blick zu. Seine Kleidung war eine merkwürdige Mischung aus saloppem Sweatshirt, ausgewaschenen Jeans und teuer aussehenden Schuhen. Der Mann fing ihren Blick auf. »Und? Worauf tippen Sie?«

      Hannah kräuselte die Lippen. »Keine Ahnung. Freiberufler vielleicht. Grafikdesigner oder in der Werbung tätig. Es sind Ihre teuren Schuhe, die die Sache kompliziert machen.«

      Ein geheimnisvolles Lächeln erschien auf seinem Gesicht, dann streckte er die Hand aus. »Mein Name ist Michael. Michael von Stetten.«

      »Hannah Peters.« Seine Finger fühlten sich geschmeidig und muskulös an. Ihr gefiel seine zurückhaltende Art.

      »Sind Sie in Begleitung?«

      »Nein, und Sie?«

      »Ebenfalls solo«, sagte er. Er blickte kurz zu den Stuhlreihen hinüber, überlegte kurz, dann sagte er: »Hätten Sie Lust, wenn wir uns das Konzert gemeinsam anhören? Anschließend könnten wir noch ein Bier trinken und eine Kleinigkeit essen. Es gibt ein nettes Gasthaus, nur fünf Minuten von hier.«

      Hannah hatte eigentlich vorgehabt, früh zu Bett zu gehen und morgen zeitig aufzustehen. Doch es war etwas an dem Mann, das ihr gefiel. Um ehrlich zu sein, sie war neugierig, herauszufinden, ob sie mit ihrer Einschätzung, was seinen Beruf betraf, richtiggelegen hatte. »Einverstanden«, sagte sie. »Wenn Sie mir versprechen, dass ich mein Essen selbst bezahlen darf.«

      Er sah sie mit großen Augen an, dann lachte er.

      »Abgemacht.«

      Das Konzert dauerte eine gute Stunde, und als es zu Ende war, fühlte Hannah sich in eine merkwürdige Stimmung versetzt. Besonders die an- und abschwellenden Kaskaden der Nacht auf dem kahlen Berge von Modest Mussorgski, einer sinfonischen Dichtung über einen Hexensabbat auf dem Blocksberg, gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es war ein finsteres, ein furioses Stück, das einen bleibenden Eindruck hinterließ. Von Stetten schien es ebenso zu ergehen. Während die beiden das flammenhelle Schloss hinter sich ließen und auf das Stadtzentrum zusteuerten, wechselten sie kaum ein Wort. Erst nachdem sie die Wirtschaft betreten, sich an einen Tisch gesetzt und jeder ein

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