Nebra. Thomas Thiemeyer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Nebra - Thomas Thiemeyer страница 19

Nebra - Thomas Thiemeyer Hannah Peters

Скачать книгу

Wernigerodes ragten, gaben dem Gemäuer den Anstrich eines Märchenschlosses. Amerikaner, deren Deutschlandbild von Heidelberg und Neuschwanstein geprägt war, hätten sich hier sofort heimisch gefühlt. Für Hannah war der Anblick einfach nur unwirklich. Zu viele rote Schindeln, zu viel Kopfsteinpflaster und zu viel Fachwerk. Kaum zu glauben. So sollte Deutschland ausgesehen haben, ehe es von den alliierten Bombenteppichen zu Staub zermahlen worden war? Eine Heimstatt für Zwerge und Wichtel? Wie sollte man sich da als moderner Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts zurechtfinden?

      Kaum hatte sie ihren Koffer abgelegt und das Fenster geöffnet, drangen milde Frühlingsluft und Vogelgezwitscher in ihr Zimmer. Die Wolken waren aufgerissen und ließen den blauen Himmel durchscheinen, ganz wie auf einem Gemälde von Spitzweg. Erste Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg und zauberten einen warmen, hellen Fleck auf ihr Bett. Ob sie es wollte oder nicht, der Harz begann einiges von seiner Düsternis zu verlieren. Hannah fühlte, wie sich der Frust vom Vormittag verflüchtigte. Ihre innere Anspannung begann sich langsam aufzulösen. Hier ließ es sich ein paar Tage aushalten.

      Während sie ihren Waschbeutel in das winzige, wenn auch tadellos saubere Bad räumte und die Sachen aus dem Koffer in den Eichenschrank hängte, fragte sie sich, mit welchen Vorstellungen sie eigentlich angereist war. Mit der Hoffnung, dass die Scheibe wirklich eine Art Karte war, die auf einen bestimmten Ort mitten im Harz deutete? Das war bei näherer Betrachtung doch reichlich absurd. Genaugenommen war es Wahnsinn. Eine Region wie diese, durchwandert und durchforstet von Myriaden wanderfreudiger Touristen, war längst aller Geheimnisse beraubt. Kein Baum, der nicht schon fotografiert, kein Stein, auf dem nicht schon ein Picknick abgehalten worden war. Es war, als würde man in einem Museum anfangen, nach Schätzen zu suchen. Gäbe es hier tatsächlich ein bronzezeitliches Grabmal, so wie das auf dem Mittelberg, man hätte es längst entdeckt. Steine mit seltsamen Ritzungen, so wie der aus Trundholm, wären mittlerweile in jedem Reiseführer erwähnt worden und hätten sich zu einem beliebten Wanderziel entwickelt.

      Nein, entschied Hannah, die Aussicht, hier tatsächlich etwas zu finden, war so gering wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Sie durfte sich keiner falschen Hoffnung hingeben. Finden würde sie sicher nichts. Sich aber ein paar Tage die Füße zu vertreten, sich in der sonnigen Spießeridylle wie eine Bratwurst auf Sauerkraut betten und dabei einen klaren Kopf bekommen, das war etwas anderes. Sie spürte, dass sie sich nach dem letzten Dreivierteljahr harter und unfruchtbarer Arbeit etwas Ruhe verdient hatte.

      Sie schloss den Schrank, stellte sich kurz vor den Spiegel, ordnete ihre Haare und verließ dann das Hotel. Ihr erstes Ziel war eine Buchhandlung. Sie benötigte dringend Lesestoff und wollte sich mit Wanderkarten und einem Reiseführer ausstatten. Häufig war vor Ort das bessere Material vorhanden, und obendrein gab es Auskünfte und Tipps von Ortskundigen. Derlei Mundpropaganda hatte sich bei vielen ihrer Expeditionen als wertvollstes Gut erwiesen. Expeditionen. Schon bei dem Gedanken an das Wort musste sie lächeln. Was für eine Art Expedition mochte das hier wohl werden? Eine Forschungsreise ins Land des Rehrückens und Wildschweinbratens? Auf ihren Reisen in der Sahara hatte sie immer ein Kribbeln im Bauch gespürt, wenn sie eine verborgene Schlucht oder eine abgelegene Höhle betreten hatte. Ein Kribbeln, das meist ein Vorbote für das Jagdfieber war, das sich kurz darauf einstellte. Doch hier kribbelte nichts. Ihr Bauch fühlte sich an wie ein Murmeltier im Winterschlaf.

      Das blaue Schild mit der weißen Schrift leuchtete ihr von der anderen Straßenseite entgegen: Buchhandlung Kempowski.

      Hannah beschleunigte ihren Schritt und betrat den kleinen, aber auffällig modernen Laden. Dafür, dass dies eine Kleinstadt war, war das Geschäft erstaunlich gut besucht. Etwa sechs oder sieben Personen standen vor den Regalen oder saßen auf einladend aussehenden Sofas, während sie in Büchern blätterten.

      Hannah ging direkt zum Regal mit den Reiseführern.

      Der Buchhändler war ein gutaussehender Mann Mitte dreißig mit randloser Brille und einer scharf geschnittenen Nase. Seine mittellangen, pechschwarzen Haare waren verstrubbelt und ließen ihn etwas verschlafen wirken. Im Kontrast dazu stand eine Narbe, die sich von der Oberlippe bis knapp unter das rechte Auge zog und seinem Gesicht etwas Draufgängerisches verlieh. Gerade als sie sich fragte, was für eine Art von Unfall das wohl gewesen sein mochte, hob der Mann seinen Kopf und blickte sie an. Hannah fühlte sich ertappt.

      »Entschuldigen Sie«, sagte sie, ihre Gedanken sortierend. »Ich bin auf der Suche nach einer brauchbaren Wanderkarte und einem Reiseführer. Haben Sie da etwas Passendes?«

      Der Mann wirkte für einen Moment überrascht. »Wandern, hm?« Er wandte sich dem Bücherregal zu. »Zum ersten Mal im Harz?«

      »Das nicht, aber mein letzter Besuch liegt etwa dreißig Jahre zurück. Westseite natürlich, damals verlief hier ja noch die Zonengrenze.«

      »Verstehe.« Seine lebhaften Augen glitten über die verschiedenen Titel, dann zog er ein Buch und eine Karte heraus und drückte Hannah beides in die Hände. »Ich rate Ihnen zu diesen beiden Werken. Sowohl Karte als auch Führer stammen aus demselben Verlag, sind also aufeinander abgestimmt. Bei dem Buch handelt es sich um eine aktualisierte Neuauflage. Darin finden Sie alle Sehenswürdigkeiten und Gastwirtschaften. Übersichtlich aufgelistet und mit den wichtigsten Informationen versehen. Damit können Sie nichts falsch machen.«

      Mit einem beinahe schüchternen Lächeln fragte er: »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

      »Danke, nein. Ich denke, damit bin ich erst mal eine Weile beschäftigt.« Sein Lächeln verwirrte sie. Oder war es sein Aftershave? Was auch immer geschehen mochte, in dieser Buchhandlung war sie sicher nicht zum letzten Mal.

      »Danke für Ihre Hilfe«, sagte sie und hob ihre Neuerwerbungen in die Höhe. »Ich denke, ich zahl dann mal.«

      »Viel Spaß bei Ihren Ausflügen.«

      An der Kasse glitt ihr dann erst mal das Portemonnaie aus der Hand. Zwei Euro und einige Cent rollten lautstark über den Parkettboden, und es dauerte eine Weile, ehe sie die Ausreißer eingefangen hatte. Mit hochrotem Kopf tauchte sie hinter der Kasse auf und steckte das Geld zurück. Die Mitarbeiterin des Buchhändlers, eine ältere Frau mit scharfen Linien um den Mund, wartete geduldig. »Siebzehn Euro achtzig bitte.« Ihre Stimme klang so ganz anders als die des Buchhändlers. Hart und gläsern und mit unverwechselbarem sächsischen Akzent. Sie schien von der humorlosen Sorte zu sein. Hannah war das ganz recht. Was ihr jetzt noch gefehlt hätte, waren irgendwelche peinlichen Kommentare. Sie zahlte und verließ die Buchhandlung in Richtung Marktplatz.

      Das Café am Markt bot genau das richtige Ambiente: große Tische, Sonnenschein, Blick auf den Brunnen und das Rathaus. Die Schritte der Passanten hallten über das Kopfsteinpflaster und wurden von mittelalterlich anmutenden Holzfassaden zurückgeworfen. Es gab hier überraschend wenig junge Menschen. Die meisten hatten die fünfzig schon weit überschritten und zogen im kleidsamen Rentnerbeige, weißlockig und mit Baedeker bewaffnet, durch die Gegend. Nun ja, jedem das Seine.

      Hannah setzte sich, bestellte Kaffee und einen Apfelkuchen und begann die Karte auszubreiten. Wo sollte sie anfangen? Vielleicht an den Punkten, die mit den Sternen aus Blattgold übereinstimmten. Rund um den Brocken gab es davon gleich sieben. Da waren zum Beispiel der große und der kleine Brocken, die Heinrichshöhe, der Königsberg und die Brockenkinder, alle gut zu Fuß erreichbar. Bei der Gelegenheit bot sich vielleicht ein schöner Blick über das Land. Laut Wetterbericht sollten die kommenden Tage sonnig werden. Höchstens etwas Frühnebel, der sich im Laufe des Vormittags aber verflüchtigen würde. Danach stand Fernsicht auf dem Programm. Das Glück war auf ihrer Seite. Der Brocken war bekannt dafür, sein Haupt dreihundert Tage im Jahr mit Nebel und Wolken zu verhüllen.

      Als ihre Bestellung kam, faltete Hannah die Karte zusammen. Sie nippte gerade an ihrem Kaffee,

Скачать книгу