Das Buch vom Bambus. Vladislav Bajac
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In dem Maße, wie der kleine Nachfolger heranwuchs, verbrachte Osson immer mehr Zeit mit ihm. Zum wer weiß wievielten Male die Worte der Wahrsagerin durchgehend, nachdem er schon lange bestimmt hatte, wovor er sich am meisten fürchtete, nutzte Osson jede Gelegenheit, in seinem Sohn den Keim des unantastbaren Bösen einzupflanzen. Für ihn hing das Maß der Tauglichkeit jeglichen Vorgehens von der Quantität und Subtilität des Bösen ab. Er wollte seinen Sohn von dem Dilemma befreien, die Art und Weise zur Lösung einer Aufgabe wählen zu müssen. Macht war seiner Meinung nach ausschließlich eine Folge der dunklen Seite eines Charakters. Die Möglichkeit des Herrschens über Menschen und Situationen aus Güte schloss er aus. Jene war eine menschliche Schwäche und kein Charakterzug. Eine solche konnte in Verbindung mit Macht keine Ehrfurcht hervorrufen.
Ein erster Schritt war die Isolierung des Kindes von anderen Kindern. Es galt ihn zu überzeugen, dass er anders ist. Er musste ihn in allem unterweisen, damit der Junge größtes Wissen anhäufte und alles am besten wusste. Von leichter Auffassungsgabe, lernte er schnell. Voller Vertrauen akzeptierte er des Vaters Auswahl von Lösungen. Noch war er nicht in der Lage, selbst die eine Auswahl der anderen vorzuziehen. Das ganze Geheimnis der Erziehung lag laut Osson in langwierigen Vorbereitungen zur Vermeidung unerwünschter Dilemmata und das ließ sich in der Mehrzahl der Fälle mit umfangreichen und ernsthaften Vorarbeiten bewerkstelligen. Die ganze Mühe, den Kampf mit einer noch nicht existenten Aufgabe zu bestehen, sollte einen idealen, außerordentlich intuitiven und ungemein praktischen Herrscher hervorbringen. Er nutzte das Beispiel seines Erfolgs, demzufolge ihn alle für einen begabten Mann hielten, der in sehr kurzer Zeit auch das schwierigste Problem in den Griff bekam. Niemand wusste, wie viele fingierte Sachverhalte Osson gelöst hatte, bevor ein konkretes Dilemma tatsächlich eintrat. Hier lag das Geheimnis seiner Brutalität, sie ging hervor aus den in der Praxis noch nicht erprobten, aber in Gedanken bereits gefassten Beschlüssen. Wie sich herausstellte, waren einige nur für ihn sichtbare Details bereits in Schubladen systematisiert und ermöglichten so sein schnelles Reagieren. Die Rechtmäßigkeit der Lösung gehörte in eine andere Welt oder besser – in eine Welt, die für Osson nicht existierte.
Osson der Jüngere entwickelte sich immer mehr zu einem schönen und vor Kraft strotzenden jungen Mann. Sein Vater war mit den Ergebnissen der körperlichen und geistigen Ausbildung, die er seinem Sohn hatte angedeihen lassen, zufrieden. Schon stellte er ihn allmählich hinsichtlich selbständiger Entscheidungen auf die Probe. Der junge Mann verhielt sich nach den Regeln der genossenen Erziehung, worauf der Vater unverhohlen stolz war.
Im Land blieb das Kräfteverhältnis zwischen den Herrschern unverändert. Das einzig Sichtbare war das hohe Alter, das Osson und der Shogun erreicht hatten. Seit der Shogun seine Zuneigung zu Ossons Nachkommen kundgetan hatte, sahen sie sich häufiger. Der junge Mann begann seinen Herrscher nun auch unangekündigt aufzusuchen, und alsbald hatte er unbegrenzten Zutritt zu jedem Ort. Sein Sohn präsentierte sich allerorts als bescheidener und wohlerzogener Mann; dessen ausgezeichnete Schauspielerei und vor allem sein eigener Beitrag zu einer derartigen Fähigkeit des Sohnes versetzten Osson in Erstaunen. Sein Ziel hatte er fast erreicht. Er kündigte seinen Rückzug und die Ausrufung seines Sohnes zum Herrscher über die Provinz Kagoshima an. Der Shogun gab sein Einverständnis und schon bald wurde der junge Herrscher aus dem Osson-Geschlecht als neue Hoffnung des gespaltenen, nur scheinbar friedlichen Staates gepriesen. Der junge Mann kam allerdings nicht dazu, Nuancen seines Charakters zu zeigen. Die nachfolgenden Ereignisse überraschten ihn in einer sehr seltsamen Situation. Seine Ausrufung als Herrscher der Provinz machten sich alle Daimyōs für einen Aufstand zunutze, nicht gegen Osson, son dern gegen den Shogun. Ermutigt von Ossons Rücktritt, drangen die Herrscher anderer Provinzen, die bis dahin geduldig waren, mit ihren Armeen in die Residenzstadt vor.
Als er von dem Aufstand hörte, versammelte der junge Mann seine Truppen und machte sich mit dem Segen des Vaters zur überfälligen Verteidigung des Shoguns auf. Der Übermacht so vieler Armeen gegenüber seiner eigenen war er sich bewusst, doch die in ihm kochende Wut verhieß auch für seine Gegner nichts Gutes. Diese sahen das offensichtlich voraus, und so erwartete ihn vor den Toren der Residenzstadt eine Überraschung. Alle Daimyōs empfingen ihn friedlich, mit Fahnen signalisierten sie Verhandlungsbereitschaft. Hinzu kam eine weitere Überraschung: Sie boten ihm die Position des Shoguns an! Sie versuchten ihn davon zu überzeugen, dass er der Einzige im Lande war, der für eine solche Verantwortung geeignet wäre. Er bat um einen Tag Bedenkzeit und zog seine Armee von den Stadtmauern zurück.
Er witterte Betrug, war aber nicht in der Lage, die Sache zu durchschauen. Doch es hatte auch keinerlei Sinn, das Angebot ohne plausiblen Grund auszuschlagen. Ein Kampf gegen alle, wozu ihn eine abschlägige Antwort verpflichten würde, brächte keinerlei Gewissheit. Was würde ihm sein Vater in einem solchen Fall raten? Nun, sicherlich raffinierter als die anderen zu sein. Denn falls es zu viele Unbekannte gibt, lass wenigstens die Zeit für dich arbeiten, sie wird dir eine Lösung offerieren! Zeit hieß hier – Zustimmung zum Angebot.
Die Daimyōs nahmen die Zustimmung mit Erleichterung auf, nicht ohne Angst vor dem Ungewissen der Antwort. Im übrigen bedeutete das die Erreichung ihrer Ziele: dem äußerst jungen und unerfahrenen Herrscher möglichst viele Pflichten aufzuerlegen, sich selbst dadurch von solchen Pflichten zu befreien, und seine Überlastung und sein mangelndes Zurechtkommen für das ungestörte Herrschen über die eigenen Provinzen und auch über ihn selbst auszunutzen. In dem Moment, da man ihre Absichten und die bereits erfolgten Taten durchschauen würde, wäre es zu spät. Dann käme abermals eine Zeit, über neue Gründe zum Sturz des Shoguns nachzusinnen.
Keiner von ihnen vermochte alles vorauszusehen. In dem jungen Osson, dem mehr als alles andere der Frieden im Land am Herzen lag, überwog der Wunsch nach Bestrafung der Herrschermörder. Nach seiner Amtsübernahme erfuhr er nämlich, dass sie den alten Shogun weder geschont noch ihm Seppuku gestattet hatten. Seiner Position unwürdig, hatten sie ihn umgebracht und mit ihm die gesamte Familie. Deshalb handelte er unverzüglich. Er berief alle Herrscher zu einer wichtigen Absprache ein und befahl seinen Samurai, sie ausnahmslos alle zu köpfen. Seine Heerführer ernannte er zu neuen Herrschern und schickte sie in die Provinzen, damit sie mit ihren neuen Armeen das Begonnene zu Ende bringen konnten.
Osson kam zu seinem Sohn an den Hof und lobte überglücklich dessen weise Entscheidungen und grausamen Taten. Er fragte sich, wo das schlechte Omen von der Geburt des Sohnes war. Die Worte der Wahrsagerin hatten sich erfüllt! Sein Sohn war sogar auch ein starker Herrscher geworden. Aber ja! Nach ihren Worten konnte er nicht gleichzeitig ein schlechter Mensch sein. Allein die Möglichkeit, dass sein Sohn ein Guter werden könnte, war für Osson niederschmetternd. Bisher hatte der Sohn Entschlossenheit demonstriert, und da war für Güte kein Platz. Der öffentliche Gerichtsprozess gegen den Samurai, der den Shogun vor seiner Ermordung gequält hatte, konnte kein Zeichen der Schwäche des neuen Herrschers sein, als vielmehr ein bis dahin unüblicher Anstand gegenüber dem Vorgänger. Das verschaffte ihm übrigens viele Anhänger im Volk. Osson glaubte, dass dieses Vorgehen seines Sohnes ein wohl kalkulierter Schachzug war. Oder er redete sich das nur ein.
Sowohl der Vater als auch alle ihm Nahestehenden gingen daran, den jungen Shogun zu überreden, dass nunmehr die Zeit gekommen sei, an Nachkommen zu denken. Daher verkündete der Shogun bald darauf, dass er eine gewisse Prinzessin, die keine ist, namens Kagujahime zur Frau nehmen werde, die Tochter des Hüters der Haine, eines seiner Untertanen. Ihr Vater Obuto Nissan sei auch nicht ihr wirklicher Vater. Man sage von ihr, dass sie einem Bambus entsprungen sei. Schnell stellte der Shogun seine Begleitung zusammen und machte sich zu seinem Schicksal auf. Die Brautwerbung dauerte ein ganzes Jahr …
III
Am zweiten Tag seiner Regentschaft wurde der junge Osson von Lärm im Hof des Palastes