Das Buch vom Bambus. Vladislav Bajac
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2) Wenn Du nicht gelernt hast, Dich selbst zu beherrschen, wirst Du das vermutlich durch das Herrschen über andere kompensieren.
Die Wahrheit über ein unerfülltes Leben wird einzig auf dem Sterbebett zugegeben. Diejenigen, die das selbst dann nicht begreifen, spüren vor dem Dunkel des Todes als Letztes einen seltsam bitteren Geschmack im Mund. Sie wissen nicht, dass jenes Bittere das Unglück ist. Und das Glück? Glück hat sich stets durch etwas eingestellt, was man am wenigsten erwartet: durch eine Hand auf dem Bauch der Gebärenden, durch eine gleichmäßig geformte Schöpfkelle, die in die Suppenschüssel eintaucht, durch ein Wort, das Dir gehört, aber von einem anderen ausgesprochen wird, durch einen Blick zum armseligen Himmel, aus dem eine Sternschnuppe ihren nicht vorhandenen Schenkel herausstreckt … Es gibt wenige weise Menschen, die nicht versuchen, aus ihrem Alltag das an die Oberfläche zu bringen, was ihnen wichtig erscheint. Denn die Größe gewöhnlicher Dinge hängt davon ab, welche Wichtigkeit und Größe wir ihnen beimessen, und man braucht ihnen nicht gegenüber anderen den Vorrang zu geben. Alle kleinen Dinge sind gleichermaßen schön, notwendig ist lediglich, sie in ein seidenes Knäuel ohne Knoten einzuwickeln und es kullern zu lassen.
Von hier aus, von wo ich auf Dich schaue, sieht alles, was Du siehst, ganz anders aus. Schlachten sind wie ein sinnloses Jagen nach dem Wind. Diejenigen, die sich für groß halten, sind genauso klein oder groß wie alle anderen. Als Obuto die Haine abschritt, bestaunte er nicht die erdachten Formen und Besonderheiten des Bambus, sondern das, was er auf ihm sah und das, was er von ihm wusste. Einzig das, was er im Unterschied zu anderen sah und wusste, unterschied ihn von ihnen. Er war auf der Suche nach etwas, was hier in seiner Nähe war, klein, einfach, alltäglich, aber existent und nicht jenseits des Lebens, das er führte.
Wenn der Mensch sich in seiner Umgebung nicht zu finden vermag, gäbe es ihn besser gar nicht. Die Umgebung ist immer nahe, mitunter zu nahe, um von uns wahrgenommen zu werden.
Kagujahime
V
»Habe ich mit meinem früheren Leben abgeschlossen?«, fragte ich mich, als ich vor dem verschlossenen Tor des Klosters Dabu-ji stand. »Bin ich mir sicher, dass die Vergangenheit wirklich Vergangenheit bleiben wird?« Natürlich war ich mir nicht sicher. Ich wünschte es mir zwar, glaubte aber, meinen Wunsch nach Vergessen leichter erfüllen zu können, wenn ich mir sagte, die Vergangenheit gebe es nicht. Aber wie, wenn es sie nun einmal gab? Ich suchte nach einem Weg, der das bereits Geschehene nicht leugnen, aber die Reste der Vergangenheit mit dem Willen aussöhnen würde, ein mir unbekanntes Ziel zu erreichen. Ich suchte nach etwas, was auf mich wartete. Etwas Vertrautes zu wählen, war keine Lösung. Ich musste es zulassen, dass mich neue Erfahrungen von der Fäulnis befreien, die sich wie ein Spinnennetz über meine Seele gelegt hatte.
Als schlimmster Feind erweist sich das, was bleibt. Der Mensch kämpft gegen größten Schmerz an, ohne nachzudenken oder einen Plan zu haben, weil die Natur ihm befiehlt, sich zur Wehr zu setzen. In einem solchen Moment sucht man nicht nach einer Lösung, sondern nur nach Schutz, nach einem Ausweg aus dem Schmerz. Ist der Sieg nicht vollkommen, erweist sich das, was von der Verletzung zurückbleibt, als schlimmer denn die Verletzung selbst. Man weiß nicht, wie man mit den Überbleibseln umgehen soll, kann ihnen nichts anhaben, denn sie zu besiegen, heißt, eine erprobte, sichtbare, sichere Lösung zu haben. Und das wiederum erfordert einen starken, abgebrühten Kämpfer, der mit dem Sieg etwas anzufangen weiß. Wer ausgelaugt ist, weil er einen Fels bezwungen hat, besitzt nicht mehr die Kraft, auch noch die Steinchen aufzusammeln, und er wird verletzlicher denn zuvor, als die Trompeten zum Angriff riefen.
Genauso stand ich nun vor dem großen, hölzernen Tor von Dabu-ji.
Es wurde mir von jemandem geöffnet, den ich nicht sehen konnte. Vielleicht war es aber auch von selbst aufgegangen. Vor mir lag ein beidseits von jungen Bambuspflanzen gesäumter Kiesweg, der zur Veranda von einem der Gebäude führte. Auf einem breiten Treppenabsatz mit einer Bank blieb ich stehen. Über ihr begann die blitzsaubere Veranda aus dunklen, glatten Dielen. Ich setzte den Hut ab, machte den Gürtel auf, nahm mein Bündel vom Rücken und legte alles vor mir ab. Um mich bemerkbar zu machen, schlug ich die Glocke, dann holte ich das Papier mit meinem Bittgesuch hervor. Halb auf der Bank sitzend beugte ich mich vornüber und ließ den Kopf auf meine Hände sinken, die auf dem Bündel lagen. In dieser Haltung wartete ich, dass jemand kommt. Nach mehr als zwei Stunden, in denen ich mich nicht zu rühren wagte, hörte ich Schritte näher kommen. Ohne den Kopf zu heben, sah ich eine Hand, die mein Bittschreiben aufhob. Eine Stimme fragte:
»Wer bist du?«
»Mein Name ist Cao und ich möchte hier Unsui werden.«
»Bei welchem Röshi hast du früher gelernt?«
»Ich hatte keinen Lehrer außer meinem Willen.«
»Warte einen Augenblick«, und weg war er.
Ich harrte noch einige Stunden in derselben Haltung aus, bevor ein zweiter Mönch erschien.
»Dieses Kloster hat genug Schüler. Wir können dich nicht aufnehmen.«
Ich blieb hartnäckig und bewegte mich keinen Zentimeter. Ich wusste, dass man meine Ausdauer und Willenskraft auf die Probe stellt und mich nicht aus den Augen lässt. Die Schmerzen im Rücken, in den Knien und in den Zehen wurden stärker. Gegen Abend kam der erste Mönch wieder.
»Hier herrscht strenge Disziplin. Geh besser an einen anderen Ort.«
Für mich, einen Anfänger, konnte es keinen anderen Ort geben. Gäbe ich jetzt auf, würde sich das schnell herumsprechen, und kein einziges Kloster würde mich mehr aufnehmen. Ausschlaggebend war einzig meine Ausdauer.
Die Schmerzen wurden unerträglich, doch ich presste mich weiter fest an meine Hände und den Boden unter mir. Niwazume verlangte nicht nur Bewegungslosigkeit, sondern auch vollkommene Stille. Ich ging auf keinen der abweisenden und beleidigenden Sätze ein, die man an mich richtete. Hätte ich auch nur ein Wort gesagt, wäre ich sofort hinausgeworfen und nie wieder durch ein Shöji gelassen worden.
Es wurde Abend. Den Körper spürte ich nicht mehr. Ich glaubte jeden Moment zusammenzubrechen. Da kam ein Mönch herbei und stellte mir eine Schale mit Reis hin. Mit langsamen Bewegungen, die meine Schmerzen und die Angst vor der Ohnmacht verbergen sollten, setzte ich mich auf und aß. Sogleich nahm ich wieder meine vorherige Haltung ein. Diesmal musste ich nicht lange warten. Man sagte mir, dass ich im Tankaryo übernachten könne und am Morgen das Kloster verlassen müsse. Die dünne Schilfmatte, die ich erhielt, schien mir so bequem, dass ich einschlief, sobald ich mich hingelegt hatte. Ich hatte weder Träume noch Albträume. Ich schlief nur ein, und als ich einen Augenblick später wieder wach wurde, war es Morgen. Schnell rollte ich den Futon zusammen und nahm am Platz vom Vortag, entgegen der gestrigen Aufforderung, den Garten zu verlassen, wieder meine demütige Haltung ein. Ein wenig an den Schmerz im Körper gewöhnt, ertrug ich das Warten auf neue Herausforderungen leichter. Zu Mittag erhielt ich, begleitet von neuen Kränkungen, dasselbe Essen wie am Vortag. Gegen Abend war aller Schmerz von zuvor ausgelöscht, betäubt von Schwellungen an Armen und Beinen. Ich fühlte, dass auch mein Gesicht aufgedunsen und geschwollen war. Der Mönch erschien erneut.
»Da du den aufrichtigen Wunsch zu haben scheinst, zu uns zu kommen, werden wir dich ins Tankaryo lassen. Glaub aber nicht, dass jetzt alles in Ordnung ist und deine Mühen abnehmen werden. Es kann dir jederzeit passieren, dass wir dich hinauswerfen.«
Die nächsten vier Tage