Rubine im Zwielicht. Dieter Jandt
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Er würde einfach eindringen und sich umschauen, bis womöglich oben die Frau aufmerksam wurde. Was machte es schon, wenn er sie ein wenig unter Druck setzte. Vielleicht sollte er auch sofort nach oben gehen. Er fühlte keinerlei Skrupel, sondern sah sich eher als jemand, der in einer Art offiziellem Auftrag handelt. Er hatte das moralische Recht dazu, das war klar. Schließlich hatte Lochner seinen Bruder auf dem Gewissen und das Geld an sich genommen. Auch das war klar. Vermutlich hatte Lochner damals seinen Bruder Hakan vorsätzlich zum Tavla-Spiel ins Hotel gelockt, in der festen Absicht, ihm das Geld abzunehmen, mit allen Mitteln. Wenn es ihm nur um ein Spiel gegangen wäre, hätte man das auch im Hinterzimmer des Wettbüros erledigen können.
»Um so hohe Einsätze niemals woanders als auf neutralem Boden«, hatte Lochner in seiner arroganten Art gemeint, und Hakan war darauf eingegangen, obwohl Kemal ihn gewarnt hatte. Mit fairen Mitteln hätte Lochner es niemals geschafft, Hakan das Geld abzuluchsen, nicht gegen seinen Bruder, nicht beim Tavla. Und dann? Wo war Lochner, als Hakan von der Polizei aufgefunden wurde, mit einer Herzattacke vom Stuhl gerutscht? Wo war das Geld? Die Polizei wusste von einem zweiten Mann, der in der Nacht mit Hakan im Hotelzimmer war. Sie wusste aber nicht, wer das war. Man fand ein Tavla-Spiel, man vermutete, dass um Einsätze gespielt worden war, aber nicht, dass es hier um schlappe Hunderttausend ging.
Die Chipkarte taugte nicht. Derintop schaute über den Rasen und über den Kies, der sich in einem schmalen Streifen um das Haus herumzog. Er suchte nach einem Haken, einer flachen Metallschiene, irgend etwas, womit er sich behelfen konnte. Warum schellte er nicht einfach? Er ging die Kellertreppe wieder hoch und die Außenwand entlang. Vielleicht gab es an der anderen Seite des Hauses, an der Blautannen einen Sichtschutz zum nachbarlichen Grundstück bildeten, einen Seiteneingang. Nichts, nur ein schmaler Streifen mit grauen Gehwegplatten und zwei Mülltonnen, keine Fenster im Erdgeschoss. Er ging zurück und kam an der Terrassentür vorbei. Sie stand auf Kippe. Er drückte sein Gesicht gegen das Glas und schaute hinein. Es war niemand im Wohnzimmer. Wahrscheinlich war Frau Lochner immer noch oben auf dem Balkon an der Vorderseite. Derintop langte durch den offenen Spalt zum Fenster, das von der Tür bis zur Außenecke reichte. Er bekam den Griff mit den Fingerspitzen zu fassen. Er musste sich dazu ganz an die Glastür pressen, um überhaupt heranzukommen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich, als es vorn an der Haustür schellte. Er erschrak, weil er im ersten Moment glaubte, er hätte das Läuten ausgelöst. Erst jetzt erinnerte er sich, dass soeben irgendein Auto vorgefahren und der Motor abgestellt worden war. Derintop hörte, wie innen Frau Lochner die Holztreppe herunterkam. Er ging geduckt zurück zur Hausecke.
»Tag, Frau Lochner. Tut mir leid, ich muss Sie noch einmal stören. Wir sind da leider nicht viel weiter gekommen.« Derintop hörte, wie der Mann weiter redete, während er ins Haus ging und die Tür hinter ihm zufiel. Derintop zuckte mit den Schultern, vergewisserte sich, dass die beiden nicht im Wohnzimmer Platz nahmen und er nicht durch die Terrassentür gesehen werden konnte, dann ging er gemächlich zurück über den Rasen und stieg über den Jägerzaun. Sein BMW stand direkt vor dem Wagen, der soeben gekommen war: ein dunkelgrüner Audi mit einer Polizeiplakette auf der Heckscheibe.
»Sie wissen also nicht, wohin Ihr Mann unterwegs war? Warum hat er nicht seinen Wagen genommen?« Kommissar Bärhalter war ein Mann von Mitte fünfzig, ergraute Schläfen, rotwangig von allmorgendlichen Rasuren. Er stand breit da in einem rotkarierten Baumwollhemd und einer beigen Cordhose, durchweg bieder, und verkörperte so Recht und Gesetz. Er verkörperte den Durchschnitt, der sich normal verhielt und niemals aneckte; der der unumstößlichen Meinung war, wenn man sich nichts zuschulden kommen ließ, könne einem auch niemand etwas anhaben. Ansonsten trete er auf den Plan. Nun starrte er unter buschigen Augenbrauen hervor auf die Frau, die unter ihm am Schreibtisch saß. Anna Lochner mochte vor zehn Jahren, als sie geheiratet hatte, eine schöne Frau gewesen sein. Sie hatte blondes, splissiges Haar, das in Wellen auf ihre Schultern fiel. Irgendwie erinnerte sie an Marlene Dietrich in einer tragischen Rolle. Sie war blass, eine spitze Nase, schmale Lippen, die meist in einer Art Selbststrenge aufeinander gepresst waren.
»Ich habe ihnen doch schon gesagt, dass er mir nur selten von seinen Geschäftsgängen erzählte. Nur, wenn es mal Probleme gab oder …«
»Und dann offensichtlich auch nicht. Frau Lochner, Ihr Mann ist die Treppe der Schwebebahn hinaufgejagt worden. Vermutlich hatte der Täter die Waffe schon vorher gezogen. Sonst hätte er nicht so schnell reagieren und ihren Mann erschießen können, gerade als der in den Waggon springen wollte. Und das alles mit Schalldämpfer und vor laufendem Publikum.«
»Ich dachte, niemand hat ihn gesehen?«
»Das kommt hinzu: Die Aufmerksamkeit der Leute war offensichtlich allein auf ihren Mann gerichtet. Und der Täter hat sich wahrscheinlich so geschickt in den Winkel der Treppe gestellt, dass er kaum gesehen werden konnte. Frau Lochner, das war kein Dilettant!«
Die Wände des Arbeitszimmers hingen voll von Fetischen aus allen möglichen Ländern der dritten Welt: Ebenholzmasken, Amulette, Glücksbringer aus Jade. Das kleine Fenster zur Straße ließ in Streifen Licht durch die Rolläden. Draußen fuhr gerade ein Wagen an. Laute türkische Musik schwappte ins Zimmer und entfernte sich schnell.
Anna Lochner stützte sich mit dem Ellbogen auf die Schreibtischplatte. Sie hatte rot geränderte Augen, und Bärhalter war nicht klar, ob sie um ihren Mann trauerte oder weil sie nun nicht wusste, wie es mit dem Schmuckgeschäft weiter gehen sollte.
»Frau Lochner, gab es denn da irgendwelche schärferen Konkurrenzen als gewöhnlich, oder gar Feindschaften? Ich meine, Ihr Mann handelte schließlich mit Edelsteinen und nicht mit Milch oder Butter. Ich kann mir denken, dass es da auch manchmal um sehr viel Geld ging.«
»Das ist das Bild, das man gemeinhin von der Edelsteinbranche hat. Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir, zumindest was das Finanzielle angeht, nicht viel anders gelebt haben wie ein Milchhändler.«
«Schulden. Hatten Sie Schulden?«
»Hatten! Was heißt hatten? Was glauben Sie, was mir seit Tagen durch den Kopf geht? Wie ich all diese Schulden bezahlen soll! Ob ich das Haus verkaufen soll! Mein Mann war, was Finanzen anging, ein …« Anna Lochner winkte mit einer verächtlichen Handbewegung in Richtung der schwarzen Masken ab.
»Ein? Ihre Ehe war wohl nicht besonders glücklich?«
»Ich glaube, das führt uns nicht weiter, Herr Bärhalter. Wessen Ehe ist denn besonders glücklich? Ihre vielleicht?«
»Nun ja, zumindest ist es eine – wie soll ich sagen – beständige, auf festem Grund befindliche.«
Anna Lochner brach in ein lautes Lachen aus, das irgendwie hässlich klang. Ihr Gesicht war mit einem Mal verzerrt. Sie sah aus, als streite sie sich gerade und als sei Bärhalter ihr Mann.
Bärhalter stieß nach: »Sagen Sie, es gab vor wenigen Tagen einen Todesfall im Mercuria-Hotel. Junger Mann, Mitte Dreißig, türkischer Abstammung. Er wurde in einem der Zimmer tot aufgefunden. Er ist an einer Überdosis Kokain gestorben. So, wie es aussah, mitten beim Backgammon-Spiel. Mein Kollege Winterberger führt in diesem Fall die Ermittlungen. Er meint, da müsse noch jemand gewesen sein, den wir nicht kennen. Denn wer spielt schon allein? Es hat dazu einen anonymen Hinweis gegeben, einen Hinweis, dass es sich bei dem Unbekannten um Ihren Mann gehandelt habe. Frau Lochner, stand