Mord im Hause des Herrn. Franziska Steinhauer
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Читать онлайн книгу Mord im Hause des Herrn - Franziska Steinhauer страница 15
Von wem war nur dieses Gedicht? Abwesend starrte er vor sich hin und bedauerte nicht zum ersten Mal das etwas chaotische Ablagesystem seines Gedächtnisses. Vielleicht würde es ihm heute Nacht im Traum einfallen. Manchmal funktionierte diese Methode ganz gut, zum Beispiel neulich, als ihm partout seine PIN für die EC-Karte nicht mehr einfallen wollte.
Aber eigentlich müsste es ihm doch möglich sein, sich daran zu erinnern, von wem diese Zeilen stammten, schließlich wusste er ja auch noch genau, wie sehr sie ihn damals beeindruckt hatten. Mit zorniger Entschlossenheit forschte er weiter.
Gottfried Benn! Das Gedicht musste von ihm sein. Zufrieden seufzte Lundquist auf. Selbst den Titel wusste er wieder: Was schlimm ist. Wenn die Erde für den Spaten leicht ... Hatte Benn dabei an die Totengräber gedacht, die weniger Arbeit mit dem Ausheben des Grabes haben würden, oder dachte er dabei an den Toten, dessen auf ihm ruhende leichte Erde ein Bild des gelassenen Abschieds vermitteln sollte. Oder hatte Benn womöglich Angst gehabt, bei lebendigem Leib begraben zu werden und sich aus schwerer Erde schlechter befreien zu können? Dachten Mörder überhaupt über die Jahreszeit nach, zu der sie ihre Taten begingen? Oder spielte das keine Rolle? Bei Mord aus Rache vielleicht, spann er den Faden weiter, wenn der Mörder dachte, das Opfer solle auf keinen Fall mehr den nächsten schönen Sommer oder das kommende Weihnachtsfest erleben dürfen. Musste der Tote in der Kirche deshalb ausgerechnet jetzt und an diesem Ort sterben?
Gedankenverloren griff Lundquist nach einer Biografie. Ob Magda wohl Kinder wollte, Kinder mit ihm? Darüber hatten sie noch nie gesprochen. Vielleicht wäre es für Lisa sehr schön, Geschwister zu haben, schweiften seine Gedanken ab. Schadete es der Stimme einer Opernsängerin eigentlich, wenn sie schwanger wurde? Er fuhr sich mit zitternden Fingern übers Gesicht und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Würde er überhaupt noch genug Zeit haben, um diesen Kindern ein guter Vater zu sein?
Er stellte abrupt das Buch ins Regal zurück und verließ hastig die Buchhandlung.
Dr. Palm sah seinen Patienten kritisch an.
»Aha, du bist also gestrauchelt, möchtest eventuell eine neue Familie gründen und hast nun Angst, dir könnte ein neuer Schub dazwischen kommen?«
Lundquist zuckte die Schulter.
»Nun ja, ich glaube, so könnte man die Situation kurz und knapp zusammenfassen.«
Dr. Palm war schon seit Lundquist denken konnte Hausarzt der Familie und für ihn ein ganz besonderer Freund. Damals, als Anna gestorben war, hatte er es übernommen, die Familie über den Unfall zu informieren, hatte in einer hoffnungslosen Situation Halt gegeben. Auch als Lundquist vor einigen Monaten erfuhr, dass er an Multipler Sklerose erkrankt sei, war es Dr. Palm gewesen, der ihm Zuversicht geben konnte. Er kannte die familiären Hintergründe und war mit seinem analytischen Urteil immer ein guter Ratgeber.
»Deine neue Freundin weiß ja über deine Erkrankung Bescheid. Sie kennt also das Risiko, auf das sie sich eingelassen hat.«
»Ja. Na klar. Sie weiß es eigentlich schon seit den ersten Minuten unserer Bekanntschaft. Du weißt, wir haben uns ja im Krankenhaus kennen gelernt. Zwei Invaliden auf einer Bank.«
»Wildromantisch«, spöttelte der Arzt.
»Ich frage mich, ob ich die Disposition für MS vererben würde, wenn wir Kinder bekommen sollten. Und ich frage mich, ob ich noch genug Zeit habe, mit dem Nachwuchs zu spielen und zu toben.«
»Oh, wir sind wieder bei deinem Jahrmarktsbudenthema. Du weißt genau, dass dir kein Mensch die Frage beantworten kann, wie viel Zeit dir für die Verwirklichung deiner Pläne bleibt! Ob du morgen von einem Auto überfahren wirst oder beim nächsten Badespaß im Meer einen Krampf bekommst und ertrinkst: Wer will das wissen? Geh zu Lily Antwerpes, der berühmten Hellseherin, die beantwortet deine Fragen nach der Zukunft!«
»Ist ja gut, ist ja gut!« Sven Lundquist hob schützend die Hände über den Kopf. »Ich gebe mich geschlagen und bekenne, du hast Recht!«
Sie lachten.
»Was deine Frage nach der Vererbung angeht, kann ich dir sagen, es gibt definitiv keine familiäre Häufung. Man weiß einfach nicht genau, warum der eine es bekommt und der andere nicht. Wenn du wirklich abgeklärt haben willst, ob sich bei dir ein neuer Schub ankündigt, bin ich nicht die richtige Adresse. Dr. Baum wird das schneller herausfinden. Möglicherweise wird er deine Interferon-Dosis etwas erhöhen. Und einmal straucheln ist nicht wirklich ein alarmierendes Signal. Ich hatte einmal eine Sprechstundenhilfe, Insga, die stolperte von morgens bis abends durch meine Praxis. Sie war nicht etwa krank, nur irgendwie ungeschickt beim Bewegen. Jede Treppe war eine Herausforderung für sie, manchmal schlugen die Türen, die sie aufgestoßen hatte, zurück und mehr als einmal musste ich ihr eine Salbe für ihre Rippenprellungen verschreiben, die sie sich bei so einem Kontakt mit der Türklinke zugezogen hatte. Aber deshalb bist du auch nicht wirklich zu mir gekommen, nicht wahr? Das Problem liegt ganz woanders«, sagte Dr. Palm und goss aus einer großen Thermoskanne Kaffee in zwei Tassen.
»Milch? Zucker?«
Lundquist schüttelte den Kopf.
»Schwarz ist prima.«
Dr. Palm wartete. In den vielen Jahren hatte er als Hausarzt ein untrügliches Gespür für familiäre Spannungen seiner Patienten entwickelt. Er wusste, schweigend warten zu können, war eine unbezahlbare Fähigkeit, für die in der schnelllebigen Zeit im Bereich der Medizin zu wenig Raum blieb. Viele Kollegen hetzten sich und ihre Patienten durch die Anamnese und zu Spezialuntersuchungen, ohne von ihren wirklichen Problemen jemals etwas zu erfahren.
»Mutter will, dass alles so bleibt, wie es ist«, spuckte Lundquist trotzig aus.
»Sie befürchtet ihre Bedeutung für dein Leben zu verlieren«, sagte Dr. Palm; seine Stimme hatte mit einem Mal ein dunkles, beruhigendes Timbre bekommen.
»Sie weigert sich sogar, Weihnachten mit Magda zu feiern! Selbst Lisa hat schon gemerkt, dass mit Oma irgendetwas nicht stimmt.«
»Sie macht also so richtig Stimmung gegen Magda.« Lundquist knetete seine Finger, dann spreizte er sie und musterte sie kritisch, als könne er chiromantische Erkenntnisse gewinnen.
Er seufzte.
»Ja und nein«, sagte er und legte die Hände wieder auf die Armlehne. »Manchmal wirkt sie auch einfach nur traurig, vorwurfsvoll traurig, und an anderen Tagen keift sie sofort los, sobald Lisa sie nicht mehr hören kann.«
»Was hält die Kleine denn überhaupt von deinen Plänen?«
»Sie findet Magda toll. Die beiden unternehmen viel gemeinsam – auch wenn ich Dienst habe. An den Wochenenden sind wir nach Möglichkeit sowieso zusammen. Von meinen Heiratsplänen weiß sie allerdings noch nichts – Magda weiß es ja auch noch nicht«, sagte er und rutschte mit dem rechten Arm etwas fahrig an der Armlehne ab.
»Aber du glaubst schon, dass die beiden jungen Damen miteinander klarkämen?«, hakte Dr. Palm nach.
»Ja, schon. Ich glaube, Lisa wäre total begeistert, wenn Magda meine Frau würde.«
»Nehmt ihr deine Mutter auf eure Wochenendausflüge eigentlich manchmal mit?«
»Nein. Sie will nicht. Lieber sitzt sie