Die Erde ist uns anvertraut. Leonardo Boff
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Die Daten, die der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Changes, das heißt der wissenschaftliche Beirat der UNO zu Fragen des Klimawandels) im Zeitraum vom 2. Februar 2007 bis zum 17. November in Valencia veröffentlicht hat, machen uns bewusst, dass wir in eine neue Epoche der Erde eintreten, in die Phase der globalen Erwärmung, die plötzliche und irreversible Veränderungen bewirken wird. Diese Erderwärmung kann je nach Region zwischen 1,4 und 6 Grad Celsius schwanken. Im globalen Durchschnitt wird sie sich zwischen 2 und 3 Grad Celsius bewegen. Diese Erwärmung, die grundsätzlich etwas sein könnte, was der Physiologie der Erde eigen ist, hat sich in den letzten Jahrhunderten durch das Handeln des Menschen stark beschleunigt. Das menschliche Handeln ist nun ihre Hauptursache. Die klimatischen Veränderungen sind anthropogen, das heißt, der Mensch und der von ihm ins Werk gesetzte Industrialisierungsprozess, der nun schon drei Jahrhunderte andauert und seine Spuren in der Umwelt hinterlässt, sind deren Hauptverursacher.
Diese Veränderungen machen sich im Abschmelzen der Polkappen, in Taifunen, in länger anhaltenden Dürreperioden, verheerenden Überschwemmungen, im kontinuierlichen Rückgang der Artenvielfalt, in einer noch nie da gewesenen Wüstenbildung (die bereits 40 % des Bodens betrifft), in einer alarmierenden Trinkwasserknappheit und einer Zerstörung der Wälder bemerkbar. Wenn wir hier nichts unternehmen, erwartet uns ein trostloses Szenario: Das Leben von Millionen Menschen könnte ernsthaft bedroht sein.
So wie wir auf unverantwortliche Weise zur Zerstörung beigetragen haben, müssen wir nun dringend an der Regeneration der Erde arbeiten. Die Heilung der Erde fällt nicht vom Himmel, sie muss vielmehr das Ergebnis unserer Mitverantwortung und einer erneuten Sorge der gesamten Menschheitsfamilie sein (Colon 2007, 108 – 119). Deshalb bildet die Option für die Erde den neuen zentralen Bezugspunkt des weltweiten Denkens und der weltweiten historisch-gesellschaftlichen Praxis. So dramatisch die Situation auch ist: Wir glauben dennoch fest daran, dass der Mensch nach Millionen Jahren Evolutionsgeschichte nicht für ein solch tragisches Ende vorherbestimmt ist. Er hat keinen Grund, zum Satan der Erde zu werden, er kann vielmehr ihr Schutzengel sein. Seine Berufung ist es, für die Erde Sorge zu tragen wie jemand, der einen Garten – wie den Garten Eden – kultiviert (Boff 2002, 89 – 93). Dies ist die Lehre, die den ersten Seiten der Heiligen Schrift der Juden und Christen, die mit dem Buch Genesis beginnt, entnommen werden kann.
Angesichts dieser Situation ist die Erde tatsächlich zum großen Objekt der Sorge und Liebe der Menschen geworden. Sie ist nicht das physische Zentrum des Universums, wie man in der Antike und im Mittelalter annahm, doch sie wurde in den letzten Jahren zum Zentrum der Affektivität der Menschheit (Toolan 2001, 22 – 44). Wir haben keinen anderen Planeten, auf dem wir wohnen könnten. Hier haben wir uns entwickelt. Von hier aus betrachten wir das gesamte Universum. Hier lieben, weinen, hoffen, träumen wir und empfinden Ehrfurcht. Von der Erde aus beginnen wir unsere große Reise zum Jenseits, zum neuen Himmel und zur neuen Erde.
Allmählich entdecken wir, dass der höchste Wert darin besteht, das Weiterbestehen des Planeten Erde – des Erbes, das uns das Universum und Gott übereignet haben, um es zu behüten und zu vervollkommnen – sicherzustellen. Doch dieser Wert besteht auch darin, die physisch-chemischen, ökologischen und geistigen Bedingungen für die Selbstverwirklichung der Gattung Mensch, der gesamten Gemeinschaft des Lebens und jedes einzelnen ihrer Mitglieder so umfassend und solidarisch wie möglich zu garantieren (O’Murchu 2002, 197 – 206).
Aufgrund dieses neuen Bewusstseins sprechen wir vom Prinzip Erde, das eine neue Radikalität begründet. Jeder Wissenszweig, jede Institution, jede spirituelle und religiöse Tradition und jede einzelne Person müssen sich folgende Frage stellen: Was mache ich, um die gemeinsame Heimat, die Erde, zu erhalten und ihre Zukunft zu sichern, die aus dem bereits 13.700 Millionen Jahre alten Universum hervorgegangen ist und es wert ist, weiter zu bestehen? Auf welche Weise trage ich dazu bei, dass die Menschheit weiterhin am Leben bleiben, sich entwickeln und ihr weltweites Projekt verwirklichen kann? Das ist der Sinn unseres vorliegenden Buches „Die Erde ist uns anvertraut“: Die Lösung für die Erde fällt nicht vom Himmel.1
Die hier dargebotenen Überlegungen stehen in engem Bezug zum Hauptanliegen, das uns in den letzten Jahren beschäftigt und seinen Niederschlag in Vorlesungen, Tagungen und Artikeln gefunden hat (s. meine einschlägigen Zeitschriftenartikel und Bücher im Literaturverzeichnis).
All diese Überlegungen haben zum Ziel, eine neue Liebe und ein überwältigendes Gefühl der Ehrfurcht für die Erde zu erwecken. Diese Erde ist, wie wir weiter unten sehen werden, ein lebendiger Großorganismus, sie ist Gaia (griechisch: Erde), unsere gemeinsame Heimat, die Pacha Mama (Mutter Erde) unserer lateinamerikanischen Völker, die Mutter und Schwester des Franz von Assisi und von uns allen. Unser Schicksal ist an das ihre geknüpft. Und weil wir Erde sind, wird es ohne die Erde keinen Himmel für uns geben.
Angesichts der dramatischen Situation aufgrund der Klimaveränderungen scheint es uns dringend notwendig zu sein, das Prinzip Erde und die Option für die Erde zu betonen. Die Heilung der Erde wird das Ergebnis einer neuen Praxis sein, die von der Logik des Herzens, der Sorge, dem Mitleid, der Mitverantwortung, der empfindsamen Vernunft und der spirituellen Intelligenz geprägt ist. Diese Eigenschaften werden uns helfen, zu einem vernünftigen, solidarischen und demokratischen Umgang mit den Ressourcen und Gaben zu finden – sie alle sind endlich, einige sind erneuerbar und andere nicht –, die die Erde für die Gemeinschaft des Lebens bereithält.
Erstes Kapitel:
Die Lebensgeschichte der Erde
Die überwiegende Mehrheit der Menschen kennt nicht die Geschichte des Hauses, das sie bewohnt: der Erde. Sie kennt nicht einmal ihr eigenes unmittelbares ökologisches Umfeld. Sie weiß nicht, wie sich die Böden gebildet haben, wie alt die Berge ihrer Region sind, wie viele Tier- und Pflanzenarten das lebendige Ökosystem bilden. Sie kennt kaum die Geschichte der Menschen in der eigenen Gegend, weiß kaum, wer sie früher bewohnt hat, welche Helden, Künstler, Dichter, Heilige und Weise es dort gab. Wir alle sind mehr oder weniger ökologische Analphabeten, wissen nichts über den Ursprung der Erde und unsere eigenen Anfänge. Viele interessiert es nicht einmal, warum sie auf dieser Welt sind, was ihre besondere Stellung innerhalb der Gesamtheit der Lebewesen ist, und noch viel weniger beschäftigt sie die Frage, welches ihre Aufgabe angesichts des Universums und der Gemeinschaft des Lebens ist.
Nun, da die Erde und die Menschheit Gefahr laufen, großen Schaden zu nehmen, möchten wir dringend wissen, wie wir in diese Situation geraten sind. Doch zuvor ist es notwendig, die Biographie der Erde zu kennen und zu wissen, wie wir selbst aus ihrem Inneren, aus ihrem geheimnisvollen und aufnahmebereiten Mutterschoß hervorgegangen sind.
1. Wie die Erde entstand und Gestalt gewann
Im Folgenden möchten wir in knapper Form die Hauptabschnitte des Lebens der Erde beschreiben (vgl. Boff 1995; Brahic 2001; De Duve 1997; Hawking 1992, 2001; Küng 2007).
Zuerst gab es die Ursprungsquelle allen Seins, diesen unbenennbaren und praktisch unendlichen energetischen Hintergrund, der dem gesamten Universum und jedem einzelnen Wesen, das existiert, zugrunde liegt. Die Astrophyiker nennen das „Quantenvakuum“. Das ist eine in gewisser Weise unzutreffende Bezeichnung, denn das Vakuum, auf das man sich bezieht, ist alles andere als ein Vakuum im landläufigen Sinne. Es ist von einer unergründlichen und geheimnisvollen Energie erfüllt. Es ist das Zuvor des Zuvor, allem vorausliegend, was existiert und existieren kann, selbst dem Raum und der Zeit.