Der Serienmörder von Paris. David King

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Der Serienmörder von Paris - David  King

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wollte er nicht schlafen, sondern immer „spazieren gehen“. Sein Onkel und Lehrer Vidal Gaston beschrieb ihn als einen „sehr intelligenten Jungen, der schnell verstand“, doch er fügte hinzu, dass er „ein bizarres Verhalten an den Tag legte“. Er bekam niemals Besuch von Freunden. Seitdem Gaston ihm bei den Abschlussprüfungen geholfen hatte, sah er Petiot kein einziges Mal mehr. Gastons Aussage nach konnte er „keine näheren Auskünfte über seinen psychischen Zustand geben“.

      Der Armeeausschuss war damals nicht die einzige Institution, die den Patienten unter die Lupe nahm, denn Petiot hatte sich zu einem erstaunlich guten Medizinstudenten an der Universität von Paris gemausert und musste demzufolge ständig Prüfungen absolvieren. Nach der Entlassung aus dem Militär nahm er an einem Schnellkurs für Veteranen teil, der den ehemaligen Soldaten einen reibungslosen Wiedereintritt in das bürgerliche Leben ermöglichen sollte. In den ersten zwei Jahren studierte er Osteologie, Histologie, Anatomie, Biochemie, Physiologie und die Kunst des Sezierens. Sein drittes und letztes Jahr absolvierte er in Paris, er bestand die Prüfung am 15. Dezember 1921 mit Auszeichnung. In seiner Doktorarbeit Ein Beitrag zum Studium akuter progressiver Paralysen thematisierte er die „Landry’sche Paralyse“, benannt nach dem Arzt, der 1859 zuerst die Symptome der unterschiedlich verlaufenden Nervenkrankheit diagnostizierte.

      Später kamen Zweifel an seinem Abschluss auf. Hatte er tatsächlich die Prüfungen nach einer so kurzen Studienzeit bestehen können? Der angesehene Psychiater Paul Gouriou drückte seine Skepsis aus und wies auf einen lebhaften Handel mit Doktorarbeiten ganz in der Nähe der Universität hin. Allerdings konnte er die Behauptung nicht mit Beweisen untermauern. Auch von anderer Seite kamen keine konkreten Anhaltspunkte. Der Dekan der medizinischen Fakultät der Universität von Paris bestätigte der französischen Polizei, dass bei Petiots Abschluss alles rechtens war. Ob er allerdings die darüber hinausgehende Belobigung für seine nur 26-seitige Arbeit, die von einem Arzt einige Jahre später als „sehr banal“ eingestuft wurde, verdient hatte, ist jedoch zweifelhaft.

      Zumindest genoss Petiot damals einen Moment des Triumphs. Sein Vater organisierte aufgrund des Abschlusses ein Festessen, lieh sich dafür ein Silberbesteck von den Nachbarn und holte ein Service aus dem Schrank, das seit dem Tod der Mutter nicht mehr benutzt worden war. Der jüngere Maurice wartete voller Spannung auf die Rückkehr des Bruders, den er sehr verehrte. Petiot, immer noch der Meinung, dass sein Vater nicht viel auf ihn gehalten hatte, reiste pünktlich an und verhielt sich eher steif, kalt und distanziert. Er suchte nicht das Gespräch und beantwortete die meisten Fragen mit knappen Sätzen. Kurz bevor der Nachtisch serviert wurde, gab Petiot bekannt, dass er noch anderswo einen Termin wahrnehmen müsse, und verließ den Raum.

      Der 25-jährige Marcel Petiot eröffnete die erste Praxis in der traditionsreichen Stadt Villeneuve-sur-Yonne, ungefähr 120 Kilometer südöstlich von Paris und ca. 40 Kilometer von Auxerre entfernt gelegen. Er bezog ein kleines Haus an der kopfsteingepflasterten Rue Carnot, das an einer Seite an die im gotischen Stil erbaute Kirche von Notre Dame angrenzte, deren Bau Papst Alexander 1163 zu Ehren von Ludwig VII. initiiert hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich das „Haus der sieben Köpfe“, ein Wohnhaus mit gespenstischen, aus Marmor gemeißelten Köpfen, angebracht über den Fenstern des zweiten Stockwerks.

      Petiot hatte sich das kleine Städtchen ausgesucht, da es in der Nähe seines Zuhauses lag und dort wenig ansässige Ärzte praktizierten. Tatsächlich waren es nur zwei Kollegen, nicht mehr weit von der Rente entfernt. Petiots Anzeigen und Flugblätter, die er kurz nach der Ankunft platzierte, stellten sein Talent zulasten der Rivalen heraus. „Dr. Petiot ist jung, und nur ein junger Arzt kann die neuesten Methoden umsetzen, die durch den Fortschritt entstehen, einen Prozess, der mit Riesenschritten vorwärts drängt.“ Petiot versprach, die Patienten zu behandeln und nicht auszubeuten. Schon bald lief die Praxis mehr als zufriedenstellend und zog unterschiedlichste Patienten an, die alle seine Arbeit lobten.

      Der junge Arzt war liebenswürdig, höflich und charmant. Er konnte gut zuhören und schien laut Aussagen vieler Patienten eine außergewöhnliche Fähigkeit bei der Diagnose verschiedenster Krankheiten zu besitzen. „Ich weiß genau, was Sie meinen“, sagte er häufig. „Mir ist klar, was Ihnen fehlt“, lautete eine weitere Antwort, wenn er die Beschwerden des Patienten mit erstaunlicher Treffsicherheit beschrieb. Ein ständig wiederkehrendes Gerücht besagte, dass er ein kleines Mikrofon unter dem Tisch im Wartezimmer versteckte hatte. Petiot tröstete die Patienten mit seinen beinahe schon unheimlichen diagnostischen Fähigkeiten und überzeugte viele Einwohner Villeneuve-sur-Yonnes davon, dass er der beste Arzt in der Stadt war.

      Madame Husson erklärte später, wie er mit Hilfe einer selbst hergestellten Salbe ein Geschwür an der Stirn eines Kindes entfernt habe, das bis zu diesem Zeitpunkt auf keine Behandlung reagiert hätte. Monsieur Fritsch erinnerte sich an Petiot, dass er angeboten habe, einen seiner Nachbarn zu behandeln, bei dem eine unheilbare Krankheit diagnostiziert worden sei. Petiot habe behauptet, ein neues, riskantes Medikament zu kennen, das sich noch im Erprobungsstadium befand. Es verspreche Heilung, könne aber genauso gut den Tod bringen. Er habe gefragt, ob der Patient es auf einen Versuch ankommen lassen wolle, und dieser habe natürlich den sich ihm bietenden Strohhalm gegriffen und dann noch ein Viertel Jahrhundert lang gelebt.

      Der junge Arzt engagierte sich zunehmend intensiver in seinem Beruf. Er öffnete die Praxis sogar am Sonntag, und zwar für Arbeiter, die ihn unter der Woche nicht konsultieren konnten, er machte Hausbesuche und fuhr auf dem Fahrrad lange Wege, um Kranke zu behandeln, speziell Kinder. Er gewährte älteren oder ärmeren Patienten Preisnachlässe und verzichtete in einigen Fällen komplett auf sein Honorar. Weltkriegsveteranen zahlten weniger, wenn sie überhaupt etwas entrichten mussten. Schon bald nannte man Petiot den „Arbeiterarzt“ oder den „Arzt der einfachen Leute“. Bald stieg er von seinem Fahrrad auf einen gelben Sportwagen um, einen Renault 40 CV. Im Laufe der nächsten Jahre legte sich Petiot zahlreiche Fahrzeuge zu, darunter ein Amilcar, ein Salmson und ein Butterosi.

      Er genoss seinen Erfolg. Petiot speiste regelmäßig im Hôtel du Dauphin in der Rue Carnot, vertiefte sich in die Geschichte seiner Wahlheimat und las Bücher ihrer berühmtesten Bewohner, etwa des Philosophen Joseph Joubert oder von François-René de Chateaubriand, einem Dichter der Romantik. Er sang, beschäftigte sich mit Bildhauerei, malte, spielte Schach und gewann in einem Jahr sogar ein Dame-Turnier. Voller Stolz trug er seine Krawatten, die einzigen Modeartikel, die er sich gönnte, und begab sich oft auf nächtliche Spaziergänge, meist in einen schwarzen Mantel gehüllt und den Hut über die Augen gezogen.

      Trotz aller Erfolge stieß das Verhalten des dreist anmutenden jungen Arztes auf Widerstände und Besorgnis in der Bevölkerung. Die Bekanntgabe der Praxiseröffnung wurde von den Kollegen als unverfroren und würdelos empfunden. Hinzu kam noch, dass er sich auf Kosten der anderen Ärzte etablierte, was auf eine noch größere Missgunst stieß. Petiots Hang, starke und unorthodoxe Medikamente zu verschreiben, machte den Apothekern von Villeneuve-sur-Yonne Sorge. Dr. Paul Mayaud nannte seine Medikationen „Pferdekuren“. Unbeeindruckt antwortete Petiot, dass die Apotheker und pharmazeutischen Konzerne schon lange ihre Produkte verdünnen würden, um den Profit zu erhöhen, weshalb er die Dosierung erhöhen müsse, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Außerdem hätten Apotheker keinerlei Recht, die von einem zugelassenen Arzt verordnete Medikation zu kritisieren.

      Ein Apotheker erzählte später, dass er sich einmal geweigert habe, das von dem Arzt verordnete, aber für ihn zweifelhafte Rezept anzunehmen – eine Dosis für ein Kind, „die sogar einen Erwachsenen umbringen konnte“. Petiots angebliche Antwort auf diese Weigerung war beängstigend, falls er es ernst gemeint hatte, was seine Feinde sehr wohl glaubten: „Ist es nicht besser, sich dieses Kindes zu entledigen, das nichts anderes macht, als seine Mutter zu verärgern?“

      Es mutete eigenartig an, dass Marcel Petiot, der gerne dem Exzess frönte, in der Praxis den Patienten so viele Vergünstigungen einräumte und damit auf ein höheres Einkommen verzichtete. Tatsächlich aber hatte er einen Weg gefunden, um das System zu hintergehen, was ihn immens reizte. Während er nach außen hin den Ruf eines freigiebigen

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