Der Rattenzauber. Kai Meyer

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der Rattenzauber - Kai Meyer страница 11

Автор:
Серия:
Издательство:
Der Rattenzauber - Kai  Meyer

Скачать книгу

Ritter«, begann er beschwichtigend, »Ihr habt gefragt, und so –«

      »Schweigt!«, fuhr ich ihm ins Wort. »Schweigt und versündigt Euch nicht weiter! Ist denn jeder in dieser Stadt vom Teufel besessen?«

      Mit diesen Worten fuhr ich herum und stürmte die Treppe hinauf in mein Zimmer. Aller Hunger war vergangen, und mit ihm meine Geduld. Plötzlich begriff ich, dass nicht allein der Herzog seine Macht über Hameln verloren hatte; auch Gottvater schien mir ferner als jemals zuvor.

      Es war dunkel. Ich stand am Fenster meiner Kammer und blickte hinaus über die buckligen Dächer der Hütten. Ich hatte geschlafen, wohl einige Stunden lang, bis mich die Träume durchgeschwitzt und wirr zurück ins Wachsein warfen. Die Fensterläden waren weit geöffnet, feiner Regen sprühte mir kühl ins Gesicht. Aus dem Labyrinth der Gassen stieg träge Stille auf wie Nebel. Ein feiner Geruch von Kaminfeuern hing in der Luft. Einmal hörte ich das Geräusch leiser Schritte im Schlamm, doch in der Finsternis war niemand zu sehen. Sonst war da nichts, nur Schweigen und Dunkel, ganz wie der Schlaf, nur ohne Träume.

      Ich war nackt bis auf das Band mit der Hasenpfote an meinem Arm. Ich nahm sie, presste sie an meine Lippen und an meine Nase. Sie roch nach nichts, auch nicht nach Althea. Die schöne Astrologin des Herzogs hatte mir den Talisman bei unserem letzten geheimen Treffen anvertraut. Leg ihn nie ab, hatte sie geflüstert. Niemals.

      Ein Geräusch auf dem Gang vor meiner Kammer ließ mich aufhorchen. Lautlos huschte ich zum Tisch, ergriff meinen Dolch. Presste dann ein Ohr an das Holz der Tür. Nichts war zu hören.

      Ganz langsam schob ich den Riegel hoch, öffnete und spähte hinaus ins Dunkel.

      Da war niemand. Der Flur war vollkommen leer.

      Aus dem Nebenzimmer drang Dantes leises Schnarchen.

      Ich schob die Tür wieder zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Hielt die Augen geschlossen und den Dolch umklammert. Mein Körper glänzte vor Nässe; vielleicht von Schweiß, vielleicht vom Regenwasser.

      Ich wandte meinen Blick auf die Wand über dem Bett. Das Kruzifix hing inmitten des Schattengewebes, umsponnen von seidiger, kraftvoller Schwärze.

      Am Morgen erkundigte ich mich bei der Wirtin nach dem Weg zum Genitium, der Tuchweberwerkstatt am Weserufer. Ich würde den alten Dorfbezirk durchqueren und ein Stück am Fluss entlang nach Süden gehen müssen. Im Genitium arbeiteten nur Frauen, woben wollene Mäntel und Hemden. Ich hoffte, dort einige Mütter der verschwundenen Kinder zu treffen.

      Nach einem Frühstück aus Brot und fetter Milch – weder Maria noch Dante zeigten sich – machte ich mich auf den Weg. Der Himmel war unverändert düster und schwer. Regen fiel ohne Unterlass und setzte die Gassen noch tiefer unter Wasser. Abfälle und stinkende Ausscheidungen, sorglos aus Fenstern und Türen gekippt, trieben in Pfützen und Rinnsalen dahin. Mit ihnen schwamm klebriger Fäulnisgeruch durch die Straßen.

      Ich trug kein Zeichen meiner Ritterwürde am Leib, nur ein einfaches Hemd und Beinkleid, außerdem den Dolch. Alles andere hatte ich im Gasthaus zurückgelassen, mit dem Befehl an die Wirtin, sorgsam darauf Acht zu geben. Doch trotz aller Schlichtheit hob ich mich allzu deutlich ab vom einfachen Volk in seinen zerlumpten, knielangen Tuniken über stoffumwickelten Beinen. Immer wieder trafen mich finstere Blicke. Eisige Ablehnung schlug mir entgegen. Zweifellos hatte sich meine Ankunft längst herumgesprochen.

      In den engen Gassen traten die Menschen zur Seite, wenn sie meiner gewahr wurden, doch war dies kein Zeichen von Ehrerbietung. Man mied mich, darüber konnte kein Zweifel bestehen, und mir fiel ein, was Graf von Schwalenberg gesagt hatte: »Hinter vorgehaltener Hand spottet das Volk über Euch.« Niemand lachte, aber mir war klar, was der Alte meinte. Glanz und Glorie des Rittertums waren dahin.

      Gelegentlich versuchte ich, einen Blick in eines der armseligen Häuser zu werfen, doch die meisten Fensterläden waren wegen des Regens geschlossen. Als ich scheinbar beiläufig an eine offene Tür trat, um hineinzusehen, vertrat mir ein schmutziger Kerl mit wildem Bart den Weg. Er stützte sich auf einen rohen Holzknüppel und sah mich herausfordernd an. Ich verstand die stumme Drohung und wandte mich ab; nicht, weil ich den Streit mit ihm fürchtete, sondern vielmehr, um mir nicht noch mehr Feinde zu schaffen, als dies meine Herkunft allein für mich tat.

      Am Flussufer wurde ich Zeuge einer Urteilsvollstreckung. Einem Dieb sollte die rechte Hand abgeschlagen werden. Einmal mehr offenbarten sich die seltsamen Herrschaftsverhältnisse in Hameln. Zwei Männer drückten den jammernden Verbrecher auf die Knie und hielten seinen Arm über einen Holzblock. Daneben stand ein alter Mann mit einem Beil, dessen Schneide er auf den Handknöchel des Diebes drückte. Zweifelsohne war dies der verrückte, herzogstreue Henker, den Schwalenberg erwähnt hatte. Ein weiterer Mann in der Kleidung eines bischöflichen Schergen holte in diesem Augenblick mit einem schweren Holzhammer aus und ließ ihn auf die stumpfe Seite des Beiles krachen. Dadurch trieb er die Schneide mit einem entsetzlichen Bersten durch den Knöchel des schreienden Diebes. Mit zuckenden Fingern stürzte die Hand in den Schlamm. Ein groteskes, grausames Schauspiel. Beide Seiten, Herzog wie Bischof, hatten das Urteil gemeinsam vollstreckt.

      Ich ging weiter, passierte zum zweiten Mal unter den misstrauischen Blicken der Arbeiter das Hamelner Loch und gelangte schließlich zum Genitium.

      Das Gebäude war ein lang gestreckter Fachwerkbau, dessen Hinterwand an den Fluss grenzte. Riesige Wasserräder drehten sich knarrend mit der Strömung. Über dem Eingang bemerkte ich ein Kreuz, an dem man fünf Borretschblüten befestigt hatte – schlichte Hausmannsmagie, die es Ehebrecherinnen unmöglich machen sollte, das Gebäude zu verlassen. Ich bezweifelte, dass die Tagelöhnerinnen Kreuz und Blüten aus freiem Willen angebracht hatten.

      Ich trat ein und sah mich zwei langen Reihen von Webstühlen gegenüber, an denen Frauen lautstark damit beschäftigt waren, grobe Wolle zu Kleidung zu verarbeiten. Der Lärm zahlloser Gespräche war ohrenbetäubend. Die Frauen, vielleicht drei Dutzend, trugen einfache Kleider und hatten die Haare mit Tüchern hochgebunden. Die Luft war gesättigt von Feuchtigkeit und Schweiß.

      Während ich mich noch umsah, übertönte plötzlich ein Ruf alle Gespräche und ließ sie verstummen:

      »Seht!«

      Im selben Moment wandten sich sämtliche Blicke in meine Richtung. Für endlose Herzschläge sagte niemand ein Wort. Alle starrten mich an, manche ausdruckslos, einige ablehnend. Das Surren der Webstühle brach ab, als alle Frauen auf einen Schlag ihre Arbeit ruhen ließen. Nur das Rauschen der Wasserräder an der Rückseite zerstörte die Vollkommenheit des Schweigens.

      Etwas Merkwürdiges war mit diesen Augen, die mich aus allen Richtungen ansahen, als wollten sie mich kraft ihrer Blicke an die Tür nageln. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was es war. Sie wirkten seltsam leblos, wie Perlen aus glasiertem Ton, unheimlich und leer. Die meisten dieser Frauen hätten ebenso gut tot sein mögen, seelenlose Körper, von den Wasserrädern in Bewegung gehalten, ihr Dasein allein von harter Arbeit bestimmt. Es war mehr als Unbehagen, das mich dastehen ließ wie versteinert, unfähig, mich zu regen; für einen Augenblick war es nackte, frostige Angst.

      Schließlich gab ich mir selbst einen Ruck, suchte mir eine jener Frauen heraus, die mir am nächsten saßen, und sprach sie direkt an. Ich nannte meinen Namen und den meines Herrn – und wurde sogleich unterbrochen.

      »Wir kennen dich, der du dich nun Robert von Thalstein nennst«, sagte eine der Arbeiterinnen und erhob sich von ihrem Platz. Es war nicht jene, die ich angesprochen hatte, sondern eine hagere, hoch gewachsene Frau mit spindeldürren Händen und knochigem Hals. Ihr Gesicht sah aus wie ein Stück alte Baumrinde, obgleich sie ihr dreißigstes Jahr schwerlich überschritten hatte.

      »Wir

Скачать книгу