Unheilige Heilige. Nadia Bolz-Weber

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Unheilige Heilige - Nadia Bolz-Weber

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mein Mann und meine Tochter und mir sagen konnten, wie großartig meine Ansprache doch sei. Während ich durch mein Stadtviertel in Denver spazierte und den anderen Passanten zunickte, dachte ich immerzu: Ich wette, die Frau, die da drüben mit ihrem Schnauzer aus ihrem 30er-Jahre-Bungalow kommt, ist nicht im Begriff, sich morgen vor Zehntausenden lutherischer Jugendlicher zu blamieren.

      Sobald es mir gelang, mein Selbstmitleid zu bezähmen, rief ich meine Freundin Kristen an und ging meine Ansprache mit ihr durch. Sie hatte über zehn Jahre lang Jugendarbeit gemacht und war so freundlich, auf meinen panischen Hilferuf zu reagieren. Sicher würde sie mein erlahmendes Selbstvertrauen wieder auf Zack bringen.

      „Das hört sich so an, als ob du zu ihren Eltern sprächest. Stattdessen könntest du Folgendes sagen …“ Und dann entwarf sie eine ganze Ansprache für mich, grundsolide und vollkommen anders als alles, was ich jemals sagen würde. In wachsender Panik beschleunigte ich meine Schritte, zerrte den Hund hinter mir her und rief meinen Freund Shane an, der schon auf solchen großen Jugendtreffen gesprochen hatte, obwohl er genau wie ich nichts mit Jugendarbeit am Hut hatte.

      „Kein Wunder, dass du Angst hast, Schätzchen. Jugendliche sind ein hartes Publikum.“

      Ich weiß noch, wie mir zwei Dinge durch den Kopf schossen, bevor ich an diesem Abend schlafen ging. Erstens: Ich brauche bessere Freunde. Zweitens: Ich werde mich vor 35 000 Leuten in Grund und Boden blamieren. Wach im Bett liegend, stellte ich mir den ohrenbetäubenden Lärm einer riesigen Schar von Menschen vor, von denen keiner über meinen Einstieg auch nur schmunzelte. Den größten Teil der Nacht verbrachte ich damit, mir auszudenken, wie ich es anstellen könnte, mein Flugzeug zu verpassen, krank zu werden oder einen Nervenzusammenbruch zu erleiden.

      Als ich schließlich früh am nächsten Morgen in mein Flugzeug stieg, war ich übernächtigt, von Grauen erfüllt und fühlte mich so, als müsse ich ohne Hilfe eines Dolmetschers einen Vortrag in einem fremden Land halten. Und dann setzte sich Chloe neben mich. Wie eine Gesandte aus Ninive.

      Ich war so mit meiner Panik vor dem Jugendtreffen und meiner Verärgerung darüber beschäftigt, auf dem mittleren Platz sitzen zu müssen, dass ich gar nicht bemerkte, wie dieses junge Mädchen den Gang entlangkam. Ihr pinkgefärbter Pony hing ihr wie ein Schutzvisier übers Gesicht, als wollte sie die Aufmerksamkeit gleichzeitig anziehen und abweisen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung zwängte sie sich an mir vorbei auf den Fensterplatz, nahm ihren abgeschabten schwarzen Rucksack und holte ein Anime-Heft und ihren Zeichenblock heraus. Sie bog ihre Schulter nach vorn herab, als versuchte sie damit zu verstecken, was ihr pinkfarbener Pony nicht verstecken konnte.

      Sie warf einen schüchternen Blick auf meine nackten Arme, ohne mich anzusehen, und sagte: „Schöne Tattoos.“

      „Oh, danke. Mir gefallen sie auch. Was ein Glück ist, da ich sie ja noch eine Weile haben werde.“

      Sie lächelte. Glaube ich. Es war schwer zu sagen.

      Dann saßen wir wieder schweigend nebeneinander, während sich das übrige Flugzeug allmählich mit Reisenden füllte. Viele von ihnen waren ebenfalls auf dem Weg zu unserer Konferenz in New Orleans. (Das erkannte ich daran, dass sie alle passende T-Shirts aus verschiedenen lutherischen Gemeinden anhatten, wie eine Bandenuniform aus dem mittleren Westen.)

      „Was zeichnest du denn da?“, fragte ich sie. Das sei Manga (ein japanischer Comicstil), aber sie zeichne auch Fantasy-Gestalten. Das mache meine Tochter Harper auch gerne, sagte ich ihr. „Sie sollten ihr von dieser Website erzählen, wo sie ihre Arbeiten uploaden kann“, meinte Chloe. Das war alles noch vor dem Start, sodass ich Harper eine SMS mit der Internetadresse schicken konnte, die Chloe mir genannt hatte. Prompt kam eine SMS von ihr zurück: „Ja, Mama, die kenne ich.“ (Seht ihr? Nicht cool.)

      Chloe zeichnete weiter und musterte dabei aus der Deckung ihres Ponys heraus meine Tattoos. „Hat das wehgetan?“, fragte sie. Gerade eben waren mir die dünnen, glänzenden Linien auf ihren Armen aufgefallen. Nicht so wie das da, dachte ich im Stillen.

      „Nicht schlimm“, sagte ich stattdessen, „aber das Tattoo auf meinem Fuß … und ein ganz großes auf meinem Rücken, heilige Scheiße, die taten weh!“ Sie lächelte.

      „Ich will auch eins, aber ich habe kein Geld dafür“, sagte sie. Sie schaute mir immer noch nicht in die Augen.

      „Irgendwann hast du genug zusammen, und vielleicht bist du dann alt genug, dir nicht so bescheuerte Sachen stechen zu lassen wie ich, als ich in deinem Alter war. Was würdest du dir stechen lassen, wenn du das Geld hättest?“

      Damit begann ein langes Gespräch, und als wir auf halbem Weg nach New Orleans waren, erzählte sie mir von ihrem Leben: davon, dass sie nicht wusste, wer ihr Vater war, und von der einstweiligen Verfügung gegen ihre ältere Schwester, von der sie im Jahr davor schwer verletzt worden war. Sie redete davon, wie blöd es in ihrer Schule sei. Sie hätten sie in Nachhilfekurse gesteckt, obwohl sie in Mathe eigentlich richtig gut sei; sie finde nur Kurven doof und weigere sich deshalb, sie zu zeichnen. Ich merkte ihr an, dass sie sehr intelligent war. Sie passte nur nicht ins System. Ich erzählte ihr, meine Beraterin auf der Highschool sei eine blöde Ziege gewesen, die dachte, ich solle auf die Handelsschule gehen, und jetzt hätte ich ein abgeschlossenes Hochschulstudium und schon zwei Bücher veröffentlicht. Wer zuletzt lacht …

      Ein Lächeln drängte sich auf ihr Gesicht wie ein ungebetener Gast, und zugleich sah sie viel heller und jünger aus. Für eine Sekunde schaute sie mir sogar in die Augen.

      „Also“, fragte ich schließlich, „bist du auch auf dem Weg zum lutherischen Jugendtreffen?“

      Sie sah mich verdattert an. „Ja … Moment mal, SIE wollen zum lutherischen Jugendtreffen?“

      Lächelnd erwiderte ich: „Ja … zufällig bin ich lutherische Pastorin, und ich soll da morgen Abend etwas sagen.“

      „Nee, ne?“, sagte sie, und ich musste lachen. Dann erzählte sie mir, dass nur zwei Mädchen aus ihrer Jugendgruppe überhaupt ein Wort mit ihr wechseln und dass sie eigentlich gar nicht auf diese Reise hatte mitkommen wollen. Sie passte einfach nicht rein. Das könne ich gut verstehen, sagte ich ihr, weil ich auch nicht reinpasse.

      Wir verstummten. Ich wandte mich meinem Buch zu, und sie arbeitete an einer Zeichnung, die sie mir schenkte, als wir gelandet waren. Es war eine Mangazeichnung von mir.

      Noch im Gang der 737 umarmte sie mich und dankte mir dafür, dass ich mich mit ihr unterhalten hatte. Und ich dankte ihr für die Zeichnung.

      Manchmal bin ich so begriffsstutzig, dass Gott nichts anderes übrig bleibt, als so deutlich zu werden, dass es schon fast peinlich ist. Zum Beispiel, indem er mir ein verletztes Mädchen mit glänzenden Schnittnarben am Arm über den Weg schickt – ein Mädchen, das sich hinter einem schützenden pinkfarbenen Pony versteckt, das nicht reinpasst, ein Mädchen, das mir auf seine ganz eigene Weise sagte: Ach übrigens, ich soll dir etwas von Gott ausrichten: Nimm dich nicht so wichtig.

      Wenn man auf einer Bühne im Superdome redet, sieht man nicht viel von den Leuten, zu denen man spricht. Das Publikum ist so weit weg, dass es wirklich unmöglich ist, zu erkennen, was für Gesichter die Leute machen, oder ihr Lachen zu hören. Es fühlt sich an wie eine Radioansprache. Oder sagen wir, wie eine Radioansprache unter so grellen Scheinwerfern, dass man sich unwillkürlich fragt, ob es vielleicht gar keine Scheinwerfer sind, sondern in Wirklichkeit Lichter von einem außerirdischen Raumschiff, das einen jeden Moment zu sich heraufbeamen wird. Und dann fängt man an zu reden wie eine geblendete Radiomoderatorin, die gleich von Außerirdischen entführt wird und so tut, als spräche sie auf einem Jugendtreffen, und man kann nur hoffen, dass

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