Unheilige Heilige. Nadia Bolz-Weber

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Unheilige Heilige - Nadia Bolz-Weber

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dem Schießstand mit Clayton auf Papierzielscheiben geballert hatte, auf der Terrasse des Hauses meiner Eltern in einem Vorort von Denver und schlüpfte für ein ausgedachtes Drama in die Rolle einer Hippie-Winzerin. Normalerweise hält mich meine natürliche Misanthropie davon ab, an derlei peinlichem Unsinn teilzunehmen, aber bald fiel mir ein, wie oft ich mich schon freiwillig verkleidet und eine Rolle in anderen ausgedachten Dramen gespielt hatte, zu denen es noch nicht einmal ein Vier-Gänge-Menü oder nette Gesellschaft gab (wie etwa in dem Jahr, in dem ich versuchte, ein Deadhead zu sein). Also ließ ich mich zwei Frauen zuliebe, die mir sehr am Herzen liegen, auf das Krimi-Dinner ein. Für meine Rolle waren ein langer, weiter Rock, eine Trachtenbluse und Blumen im Haar vorgesehen – alles Sachen, die ich nicht besitze und nicht für Geld und gute Worte anziehen würde. Also mussten ein Nachthemd und jede Menge bunter Perlen genügen.

      Den ganzen höchst vergnüglichen Abend über sah ich meine Mutter aus dem Mundwinkel mit meinem Bruder reden, so, wie sie es früher getan hatte, als wir noch klein waren, wenn sie meinem Vater etwas sagen wollte, was wir nicht mitbekommen sollten. Ich beobachtete meine Mutter und merkte gar nicht, wie sich am Rand der ausgedachten Geschichte, für die ich mir Blumen in meinen Stoppelhaarschnitt hätte stecken sollen, noch ein anderes, ungeschriebenes Drama abspielte.

      Als ich mich einmal in die Küche schlich, um nach neuen Nachrichten auf meinem Handy zu schauen, folgte mir mein Vater, um mich darüber aufzuklären, was los war. Wie sich herausstellte, ging es bei dem Geflüster meiner Mutter aus dem Mundwinkel um eine ernste Sache. Meine Mutter hatte Drohungen von einer psychisch labilen (und angeblich bewaffneten) Frau bekommen, die ihr die Schuld an einem Verlust gab, den sie erlitten hatte. Meine Mutter hatte mit diesem Verlust überhaupt nichts zu tun, aber das hielt diese Frau nicht davon ab, ihr die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Und sie wusste, wo meine Mutter sonntags in den Gottesdienst ging.

      „Dadurch ist es jetzt immer ziemlich stressig für uns, in der Gemeinde zu sein“, sagte mir mein Vater.

      Mein älterer Bruder Gary, der Vollzugsbeamter in einem Bundesgefängnis ist und mit seiner Frau und seinen drei Kindern in dieselbe Gemeinde geht wie meine Eltern, kam in der Küche an meinem Vater und mir vorbei und sagte: „Furchtbar, oder? Ich gehe seit drei Wochen mit einer Waffe unter der Jacke in den Gottesdienst, für den Fall, dass sie auftaucht und irgendetwas versucht.“

      Sofort musste ich an Clayton und seine Weltsicht denken, die mir bisher so fremd gewesen war. Jetzt war ich plötzlich instinktiv froh, dass mein Bruder gewappnet war für den Fall, dass eine Verrückte versuchte, unserer Mutter etwas anzutun. Gleichzeitig kam es mir wie der schiere Wahnsinn vor, dass ich froh darüber war, dass jemand eine Schusswaffe mit in den Gottesdienst nahm. Aber so ist das mit meinen Wertvorstellungen: Manchmal stoßen sie mit der Wirklichkeit zusammen, und wenn das passiert, kann es sein, dass ich sie über Bord werfen muss. Oder aber ich ignoriere die Wirklichkeit. Bei mir sind es meistens eher die Wertvorstellungen, die weichen müssen.

      Meine Bauchreaktion auf die Bewaffnung meines Bruders erschreckte mich, aber das war noch gar nichts dagegen, wie sie mich am nächsten Morgen erschrecken würde.

      Am Abend der Geburtstagsparty hatte ich nicht mitbekommen, wie durch die Nachrichten ging, dass George Zimmerman, der den unbewaffneten Teenager Trayvon Martin erschossen hatte, in allen Anklagepunkten freigesprochen worden war. Über ein Jahr lang hatte dieser Fall heftige Debatten über Rassismus und das in Florida geltende Notwehrgesetz ausgelöst, das jedem, der glaubt, sein Leben sei in Gefahr, die Anwendung von Gewalt erlaubt.

      In meinem Facebook-Feed hagelte es Proteste, Empörung und Schimpftiraden. Am liebsten hätte ich eingestimmt und in jener Woche meine Stimme für Gewaltlosigkeit erhoben, aber als ich im Radio hörte, der Bruder von George Zimmerman habe gesagt, Trayvon Martin sei seiner Meinung nach überhaupt nicht unbewaffnet gewesen, Martins Waffe sei ja der Bürgersteig gewesen, mit dem er George die Nase gebrochen habe – nun, als ich das hörte, war meine erste Reaktion nicht Gewaltlosigkeit, sondern ein überwältigender Impuls, mir den Mann durchs Radio hindurch zu schnappen und ihn mit einem Handkantenschlag gegen den Kehlkopf flachzulegen.

      Dazu kam, dass ich gerade in dieser Woche Dankbarkeit darüber empfunden hatte, dass ein Bundesbeamter im Justizvollzug jede Woche, wenn er den Gottesdienst in der Gemeinde meiner Mutter besuchte, eine Waffe unter seiner Kleidung verborgen trug. Eigentlich ein Wahnsinn. Normalerweise würde ich über so etwas eine empörte Statusmeldung auf Facebook posten, damit all die Liberalen da draußen, die so denken wie ich, auf „Gefällt mir“ klicken können. Nur dass in diesem Fall der betreffende Justizvollzugsbeamte a) mein Bruder war und b) diese Waffe bei sich trug, um seine (meine) Familie, seine (meine) Mutter vor einer Verrückten zu beschützen, die sie umbringen wollte. Als ich hörte, dass mein Bruder bewaffnet war, um meine eigene Mutter zu beschützen, war ich darüber nicht aufgebracht, wie es sich für eine gute, für schärfere Waffengesetze eintretende Pastorin gehört … ich war erleichtert. Und was soll ich jetzt auf Facebook posten? Was fange ich damit an?

      Außerdem musste ich mich damit auseinandersetzen, dass mir meine eigene antirassistische Empörung im Hals stecken blieb, da ich etwas wusste, was niemand sonst wissen konnte, wenn ich es nicht laut aussprach: All meiner liberalen politischen Einstellung zum Trotz ist mir, wenn in meiner Nachbarschaft eine Gruppe junger schwarzer Männer an mir vorbeigeht, instinktiv mulmiger zumute, als es der Fall wäre, wenn diese Männer weiß wären. Mir ist das selbst zuwider, aber wenn ich behaupten würde, in mir stecke überhaupt kein Rest von Rassismus mehr, würde ich lügen. Dieser Rassismus ist mir vierundvierzig Jahre lang durch die Medien und durch die Kultur um mich her eingetrichtert worden, und ich weiß einfach nicht, wie ich ihm entrinnen soll. Auch wenn ich einen Anti-Rassismus-Aufkleber auf dem Auto habe.

      Als ich am Morgen nach dem George-Zimmerman-Urteil überlegte, was ich meiner Gemeinde darüber sagen sollte, drängte es mich, meine Stimme für Gewaltlosigkeit, Antirassismus und schärfere Waffengesetze zu erheben, wie ich es für meine Pflicht hielt (oder wie ich es die Leute bei Twitter fordern sah: „Wenn dein Pastor diese Woche nicht über Waffengesetze und Rassismus predigt, such dir eine neue Gemeinde“) – aber ich konnte nur in der Küche stehen und heulen. Ich heulte über meine eigene Inkonsequenz. Über Andrea Gutiérrez, Mitglied meiner Gemeinde und Mutter von zwei Kindern, die mir sagte, Mütter von Kindern mit brauner und schwarzer Haut hätten jetzt das Gefühl, ihre Kinder könnten auf den Vorstadtstraßen ganz legal als Zielscheiben für Schießübungen benutzt werden. Über ein gespaltenes Land, in dem zwei Seiten sich gegenseitig mit erbittertem Hass bekämpften. Darüber, dass ich insgeheim die Dinge, die ich kritisiere, selbst noch nicht überwunden habe. Über die Morddrohungen gegen meine Familie und die Morddrohungen gegen die Familie Zimmerman. Über Tracy Martin und Sybrina Fulton, deren Kind erschossen wurde und denen man nun sagte, das sei mehr seine eigene Schuld als die Schuld des Schützen gewesen.

      Wenige Augenblicke, nachdem ich von dem Freispruch gehört hatte, ging ich mit meinem Hund nach draußen und rief Duffy an, eine ausgesprochen besonnene Frau aus meiner Gemeinde. „Ich bin wirklich total durcheinander über die ganze Geschichte“, sagte ich und schilderte ihr dann all die Gründe, wieso ich mich, obwohl ich in diesen Fragen ganz klare Überzeugungen habe, nicht hinstellen und glaubwürdig meinen Standpunkt gegen Gewalt und Rassismus vertreten konnte – nicht, weil ich nicht mehr daran glaubte, dass man dagegen Stellung beziehen muss (das tue ich), sondern weil in meinem eigenen Leben und in meinem eigenen Herzen zu viel Zweideutigkeit steckt. In mir gibt es sowohl Gewalt als auch Gewaltlosigkeit, und doch glaube ich nur an eines davon. Duffy meinte, vielleicht ging es ja anderen genauso. Vielleicht erwarten die Leute von ihrer Pastorin ja nicht die moralische Entrüstung und die Schimpftiraden, die sie ohnehin schon auf Facebook sehen. Vielleicht könne ich ihnen ja gerade dadurch helfen, dass ich mich zu meiner niederschmetternden Inkonsequenz bekenne, damit sie sich auch zu ihrer bekennen können.

      Bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken hinunter, aber ich wusste, dass sie recht hatte.

      In der Kirche wird man

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