Katzmann und das verschwundene Kind. Franziska Steinhauer
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«Och, ich habe es gar nicht weit.» Sie machte Anstalten, sich aus dem Mantel zu schälen, der so lang war, dass sie ihn beim Gehen raffen musste. «Ich kann gut allein gehen.»
«Lass den Mantel noch an. Ich begleite dich, keine Widerrede!»
«Mein Vater mag nicht, wenn ich Fremde mitbringe», versuchte sie einen neuen Vorstoß.
«Ich bin doch nicht fremd!», protestierte der junge Reporter.
«Also, ich habe den Mann nicht erkennen können. Wie hast du denn in der Dunkelheit gesehen, dass der einen Sack übers Brückengeländer wirft?», bibberte Konrads Stimme.
«Du hast mich da rausgezogen, ich schätze, du verdienst eine Antwort», seufzte Katja und zog frierend die Schultern hoch. «Ich bin dem Mann schon eine Weile gefolgt. Wollte sehen, wohin er den Sack bringt. Erst dachte ich, da ist ein Schatz drin und er sucht ein Versteck. Dann fing es an, in dem Sack zu strampeln.» Sie warf dem gutaussehenden blonden Mann einen argwöhnischen Blick zu. «Sind wir Freunde?»
«Klar!», antwortete Konrad mit klappernden Zähnen.
«Ich wollte sehen, wo er wohnt. Ich dachte, er ist vielleicht reich», vertraute sie ihm an.
«Weißt du was, ich glaube, wir sollten an Tempo zulegen. Wenn wir nicht schnell ins Warme kommen, werden wir beide wohl gewaltig krank. Und wer kann schon eine dicke Erkältung brauchen?»
Sie beschleunigten ihre Schritte in Richtung Dresdner Heide.
«Was macht der Hund?»
Konrad zog am Kragen seines Pullovers und warf einen indiskreten Blick auf das Fellbündel.
«Sieht so aus, als habe er beschlossen einzuziehen», lachte der Reporter dann, als er erkannte, dass der Kleine eingeschlafen war.
Wie aus dem Nichts bauten sich plötzlich zwei Frauen vor ihnen auf.
Katja wich erschrocken zurück und rief: «Meine Tanten!»
«Sehr richtig! Wir suchen dich!», zeterte die eine von ihnen und wandte sich drohend zu Katzmann um. «Was haben Sie mit der Kleinen angestellt? Das Kind ist ja völlig durchnässt!»
«Er hat nichts getan. Er hat mich aus der Elbe gefischt.»
Die Frauen zerrten Katja den Mantel vom Leib, warfen ihn achtlos zu Boden, hüllten das Mädchen in ihre Wolltücher und zogen es mit sich fort.
«Hört zu!», forderte das Kind und blieb wie angewurzelt stehen. «Das ist Konrad. Er hat mir das Leben gerettet!»
Die beiden drehten sich kurz um, murmelten ein knappes Danke und waren um die nächste Ecke verschwunden, ehe der Journalist noch ein Wort sagen konnte.
«Na, dann werden wir am besten auch nach Hause gehen, wie?», flüsterte er dem Hund zu und versuchte ungelenk, in den Mantel zu schlüpfen, ohne den Winzling fallen zu lassen. «Was frisst einer wie du denn so?»
Der Besuch bei Klaus musste warten. Jetzt brauchte er erst einmal trockene Kleidung und einen Platz am Ofen.
DREI
Drahtmitteilung unseres Dresdenkorrespondenten Konrad Katzmann vom 1. November 1918, exklusiv für die Leipziger Volkszeitung:
Grünes Gewölbe wird geschlossen
Sie möchten das Grüne Gewölbe besuchen? Es den Kindern zeigen? Dann bleibt für einen Besuch in der Schatzkammer Sachsens nicht mehr viel Zeit. Das Grüne Gewölbe schließt ab 9. November 1918 seine Türen. Wegen des chronischen Kohlemangels sei es nicht mehr möglich, die Räumlichkeiten ausreichend zu beheizen. Daher sehe man sich gezwungen, diese drastische Maßnahme zu ergreifen. Der Kurator wies darauf hin, die Schließung sei auch eine Reaktion auf eine Reihe von versuchten Diebstählen durch Besucher. Um den einmaligen Schatz nicht zu gefährden, sei es sinnvoll, der Öffentlichkeit bis auf weiteres den Zutritt nicht mehr zu gestatten. Wie lange diese Regelung gelten wird, ist noch nicht endgültig entschieden.
NACH KURZEM, ABER HEFTIGEM KAMPF mit Schlüssel und Schloss gelang es Katzmann, mit zitternder Hand die Tür zu öffnen, in der anderen hielt er den noch immer schlafenden Hund.
Die Wohnung war kalt. Sein Atem bildete kleine Kondenswölkchen. Rasch schob er Kohle in den Ofen und heizte ein. Er pellte den Hund aus den verschiedenen Bekleidungsschichten hervor und setzte den Kleinen auf einer Decke ab, bevor er sich eilig der nassen Sachen entledigte.
«Weißt du was, ich werde dich Harry nennen - das passt ausgezeichnet zu deiner struppigen Frisur. Einem so strubbligen Hund bin ich überhaupt noch nie begegnet», lachte er leise und strich mit dem Zeigefinger über die Nase des Kleinen.
Seine Gedanken kehrten zu dem seltsamen Mädchen zurück. Alle Achtung, die Kleine hatte sich ohne Rücksicht auf Gesundheit und Leben ins kalte Wasser gestürzt! Mächtig mutig! Er zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass sie herausfinden würde, wo er wohnte. Fast bedauerte er die Tanten, die mit der Aufsicht sicher vollkommen überfordert waren.
«Abenteuerlust pur! Dein Glück, dass Katja bemerkt hatte, wie du in dem Sack gestrampelt hast.»
Wenig später war Katzmann umgezogen, der Ofen strahlte behagliche Wärme ab, und der Hund lag satt in die Decke gekuschelt auf dem Sofa und beobachtete genau, wie dieser Mensch die Kleidungsstücke über Stuhllehnen hängte und Papier in die Schuhe stopfte.
Die beiden waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie heftig zusammenfuhren, als es an der Tür klopfte.
Katzmann knurrte unwillig über die Störung, warf einen prüfenden Blick auf seinen neuen Mitbewohner, der die Augen jetzt fest geschlossen hielt, als könne man dafür einen Preis gewinnen, und schlurfte zur Tür. «Wer ist da?»
«Fritz!»
«Nanu, ist was passiert?», fragte Katzmann und öffnete die Tür.
«Nein, nein. Deine Mieterin hat mich reingelassen, sie wollte gerade gehen. Und ich weiß ja von den beiden Kindern, also bin ich die Treppe leise raufgeschlichen», erklärte Ganter etwas atemlos und schob sich in die Wohnung. «Ich bin so halb dienstlich hier.»
«Willst du mich verhaften, weil ich der Familie Ludwig die Wohnung zu billig vermietet habe?», flachste Konrad und nahm dem Freund den schweren Mantel ab. «Mein Vater meint, es sollte da unbedingt eine gesetzliche Regelung geben, die einen festen Mietpreis verbindlich vorschreibt.»
«Ja, das kann ich mir vorstellen. Das ärgert ihn sicher sehr: Der Sohn lässt im Haus des Großvaters einen Kriegsheimkehrer für ein symbolisches Entgelt wohnen. Weißt du, Konrad, er hat es nicht leicht mit dir!», lachte Ganter.
«Kriegsversehrt ist, glaube ich, das richtige Wort. Frau Ludwig putzt das Treppenhaus und fegt die Straße. Das ist mir Miete genug. Diese Familie hat nichts zu verschenken.»
«Bekommt er denn keine finanzielle Unterstützung?»
«Das ist noch nicht entschieden. Er verhält sich mitunter eigenartig, die Ärzte versuchen noch herauszufinden, woran das liegt», antwortete Katzmann ernst. «Einige denken ja, die Blindheit sei vorgetäuscht und seine Anfälle nur großes Theater. Die halten ihn für einen Simulanten.