Hilde Domin. Ilka Scheidgen
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Vorhanden ist auch noch das Oberlandesgericht, nicht weit entfernt von Hilde Domins Geburtshaus, in dem der Vater als Rechtsanwalt des öfteren bei Prozessen tätig war – er führte vorwiegend Zivilprozesse – und zu denen ihn die kleine Hilde manchmal begleiten durfte.
„Meine Kindheit in Köln“, erinnert sie sich, „wurde zu einem großen Teil von meinem Vater mitgeprägt. Aber damals waren die Väter ja anders als heute. Heute nehmen sie ihre Kinder auf den Arm und benehmen sich so, wie sich damals die Mütter benommen haben. Bei uns ging der Vater mit uns schwimmen vor der Schule. Wunderbar! Im Rhein waren Schwimmanstalten. Der Rhein, sagte man, war damals sauber. Aber natürlich ist das nicht bewiesen“, fügt sie pragmatisch hinzu. „Dann traf man den Vater an der Ecke Hansaring – er hatte seine Kanzlei am Hansaring/Ecke Bismarckstraße – ging zusammen nach Hause, wo man gemeinsam aß und er noch eine halbe Stunde schlafen konnte. Es gab viele aufregende Sachen, die wir zusammen mit dem Vater erlebt haben. Aber für mich war das Aufregendste, als mein Vater mich bei Kriegsausbruch – da waren wir in England – weinend in den Arm nahm und sagte: ›Wir können dir nicht helfen. Ich kann nichts für dich tun!‹ Also, dass mein Vater mich umarmte, das war für mich fast aufregender als der Kriegsausbruch.“
Einen Augenblick schweigt sie, als erlebe sie diesen außergewöhnlichen Augenblick noch einmal. Dann fährt sie fort:
„Es war einfach ein distanzierteres Verhältnis zum Vater, das man damals hatte. Aber ich konnte mit meinem schier unstillbaren Wissensdurst immer zu ihm kommen. Auf den gemeinsamen Wegen – der Vater zu seiner Kanzlei, ich zur Schule oder auf dem Weg zurück nach Hause – stellte ich ihm all die Fragen, die mir auf dem Herzen lagen, diskutierte mit ihm über meine Schulaufsätze, und er erzählte mir von seinen Rechtsfällen, für die ich mich sehr interessierte.“
Noch einmal komme ich auf das Haus in der Riehler Straße zu sprechen, in dem Hilde Domin zwanzig Jahre lang wohnte, von ihrem Geburtsjahr 1909 bis zu ihrem Auszug zum Studium 1929. Ich erzähle ihr, dass ich das Haus besucht habe, im Treppenhaus den vergoldeten Ornamentalstuck, abgesetzt mit grünem Marmor, gesehen habe, sogar einen Blick habe werfen können in eine der Wohnungen mit ihren hohen schönen Räumen mit Stuckdecken. Ich kann mir jetzt ein bisschen das Lebensgefühl der Zeit vorstellen, als das aufgeweckte, quirlige, lern- und wissbegierige Mädchen Hilde dort lebte.
Und sofort beginnen bei Hilde Domin die Erinnerungen wieder lebendig hervorzusprudeln. „Ja, wir hatten eine geräumige Wohnung mit zehn oder elf Zimmern. Es gab ein Esszimmer, ein so genanntes Herrenzimmer, einen langen Flur, auf dem ich mit meinem Bruder Rollschuh fuhr oder Holländer, natürlich ein Kinderzimmer, das Schlafzimmer der Eltern und den so genannten Salon, der nur zu offiziellen Anlässen benutzt wurde und in dem der Flügel meiner Mutter stand.“
Sie erinnert sich, dass sie unter diesem Flügel saß, während die Mutter Klavier spielte. Sie selbst habe zwar auch Klavierunterricht bekommen, erzählt sie, weil es damals für Mädchen so üblich war, aber sie habe nie so rechte Freude daran gehabt.
„Wichtiger war mir das Lesen“, sagt sie. Und da konnte sie sich reichlich bedienen aus der Bibliothek, dem mit Glasfenstern versehenen Bücherschrank aus schwarzem Eichenholz, der niemals verschlossen war. Oft habe sie noch nachts unter der Bettdecke weiter gelesen, wenn ein Buch sie fesselte.
Die Wohnung hatte selbstverständlich eine Zentralheizung und im Wohnzimmer zusätzlich einen Kamin, der allerdings kein echter Kamin war, sondern einer mit Holzscheiten und Gasröhren, aus denen ein dekoratives Feuer züngelte. Hinter dem Bronzegitter mit Jugendstilschleifen verschwand einmal ihr Meerschweinchen und ließ sich erst nach Tagen wieder blicken.
Ich frage Hilde Domin nach Erinnerungen an ihre Schulzeit. Lernen sei ihr immer leicht gefallen, erzählt sie.
„Vielleicht“, so meint sie jetzt in der Rückschau, „war ich für meine Lehrer keine ganz einfache Schülerin, weil ich immer schon alles im Voraus gelesen hatte.“
Hilde Domin besuchte das Humanistische Mädchengymnasium Merlo-Mevissen, das sich in der Altstadt befand. Aufsätze schrieb sie gerne.
„Man machte ja damals noch Dispositionen für Aufsätze, und die schrieb ich manchmal für die halbe Klasse“, erinnert sie sich. Ein Ereignis fällt ihr ein, das ihr beim Erzählen lebhaft vor Augen zu stehen scheint: „Einmal habe ich als Schülerin in der Lengfeld’schen Buchhandlung ein Buch von James Joyce kaufen wollen. Das muss die Buchhändlerin wohl stutzig gemacht haben. Jedenfalls rief sie bei meinen Eltern an, um zu fragen, ob das in Ordnung sei, weil sie der Ansicht war, diese Lektüre sei doch wohl nichts für ›Kinder‹.“ Hilde Domin schmunzelt und ergänzt ihre Erinnerung: „Das war damals doch relativ anders!“
Und dann erinnert sie sich besonders an ihr Abitur. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, in Geschichte über „Paneuropa“ zu schreiben, ein Gedanke, der sie ungeheuer faszinierte, nicht aber den Schulrat, der prüfte.
„Und der hat mir dann meine Abiturnote verdorben. Ich machte seinetwegen nur mit einer Zwei statt mit einer Eins das Abitur. Und ich war so wütend darüber, dass ich mein schönes Seidenkleid zerriss!“ Wer Hilde Domin kennt und weiß, wie energisch sie sich für etwas einsetzt, glaubt ihr diese Geschichte sofort.
„Ich war ganz für Paneuropa. Und der Schulrat war ganz dagegen!“
Die Ideen eines vereinten Europa von Graf von Coudenhove-Kalergi – er hatte die Paneuropa-Bewegung 1923 in Wien begründet –, die damals ungeheuer modern waren, gefielen Hilde Domin außerordentlich gut, so dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, dass jemand so gänzlich dagegen sein konnte.
Am 21. September 1914 wurde der Vater, der zu diesem Zeitpunkt bereits 43 Jahre alt war, zum Kriegsdienst eingezogen. Für seine Verdienste im ersten Weltkrieg wurde er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Doch die Kriegsjahre scheinen den großbürgerlichen Lebensstil der Familie Löwenstein nicht sehr durcheinander gebracht zu haben. Bis auf den Umstand, dass der „Salon“ vorübergehend als Vorratskammer für die Würste diente, die der Vater heimschickte. Und dass danach für eine kurze Zeit ein englischer Unteroffizier in den zur Straße gehenden Zimmern einquartiert war. Hilde Domin erinnert sich vor allem noch daran, dass der Vater „herrliche bunte Postkarten aus Belgien“ geschickt hat, die sie in große Fotoalben klebte. Auch später wurde vom Krieg nie gesprochen. Dafür viel von der Demokratie. Und von der Weimarer Republik, die der Vater für den Idealstaat hielt.
Eugen Löwenstein, so erlebte ihn seine Tochter Hilde, war ein äußerst rechtschaffener, korrekter Mann, der in seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt mit Arbeitsschwerpunkt auf Zivilrecht niemals einen Fall übernahm, den er nicht für vertretenswert hielt. Seiner genauen Schriftsätze wegen war er bei den Richtern am Oberlandesgericht sehr geschätzt.
„Mein Vater zwang mich zu nichts“, erinnert sich Hilde Domin. „Im Gegenteil: Er ermunterte und bestärkte mich.“
Wenn man bedenkt, dass Familien zur Zeit von Hilde Domins Kindheit überwiegend von patriarchalischen Grundmustern geprägt waren, mit wenig Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten für eigene Gefühle und Lebensvorstellungen, wo Erziehung meistens in Form von Geboten und Strafen stattfand, so kann man ermessen, wie prägend für ihr ganzes Leben die großzügige Haltung ihrer Eltern war.
„Ich musste nicht mit ihm (dem Vater) spazieren gehen,