Hilde Domin. Ilka Scheidgen
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Eine ähnliche Verbindung zwischen „Sterben“ und „Wort“ besteht auch in dem einzigen Widmungsgedicht für den Vater.
Exil
meinem Vater
Der sterbende Mund
müht sich
um das richtig gesprochene
Wort
einer fremden
Sprache.
In diesem Gedicht kommt der Aspekt des In-der-Fremde-Seins hinzu, ausgedrückt durch das Titel gebende Wort „Exil“ und die „fremde Sprache“. Wie wichtig aber für die Dichterin die „Sprache“ und das „Wort“ sind, zeigt sich daran, dass sie diesen beiden Wörtern in dem sowieso auf Äußerste verknappten Gedicht als einzige eine eigene Zeile einräumt.
In ihrem Bericht „Unter Akrobaten und Vögeln“ beschreibt Hilde Domin ihre „Geburt“ als Dichterin folgendermaßen: „Ich, H.D. bin erstaunlich jung. Ich kam erst 1951 auf die Welt. Weinend, wie jeder in diese Welt kommt. Es war nicht in Deutschland, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist… Meine Eltern waren tot, als ich auf die Welt kam. Meine Mutter war wenige Wochen zuvor gestorben.“
Ich frage Hilde Domin nach ihrem Bruder, über den man aus ihren biografischen Aufzeichnungen nicht viel erfährt. Er war zweieinhalb Jahre jünger als sie. Die Geschwister haben sich gut miteinander verstanden. Im Kinderzimmer hielten sie gemeinsam ihre Tiere, besaßen ein Aquarium und ein Terrarium und veranstalteten Wettrennen auf ihren Schaukelpferden. Im Esszimmer wurde der Tisch ausgezogen zum gemeinsamen Pingpong-Spiel. Hilde erinnert sich, dass sie eine Zeit lang täglich im Herrenzimmer tanzten. Der Bruder machte kein Abitur, sondern verließ die Schule mit dem so genannten Einjährigen.
„Mein Bruder hatte keine Lust zu studieren“, erzählt mir Hilde Domin. „Er wäre gerne Tänzer geworden. Aber damals wurde man nicht Tänzer als Sohn eines Anwalts. Komiker, so etwas hätte er gerne gemacht. Stattdessen musste er in den Handel gehen. Ein Bruder meines Vaters hatte eine kleine Fabrik, eine Lederwarenfabrik, und die sollte er übernehmen, weil der Onkel kinderlos war. Man sagte ihm, er müsse sich darauf einrichten, die Fabrik zu übernehmen, worauf er gar keine Lust hatte. Er wurde also Verkäufer“, fährt sie fort, „aber durch Hitler kam dann ja alles weg, und er ging nach Frankreich. Nachdem er dort die Arbeitserlaubnis verlor, ging er in die Vereinigten Staaten, wo er zuerst auch als Verkäufer arbeitete. Dann wurde er von der Armee requiriert. Er ist Amerikaner geworden.“
Dieser Umstand, dass der Bruder in den USA lebte, sollte sich noch als segensreich erweisen. Nachdem die Eltern 1933 Nazi-Deutschland verließen und über Belgien und Frankreich nach England emigrierten, erhielten sie 1940 ein Visum für Amerika, was damals ohne die Hilfe des Bruders sehr schwierig gewesen wäre, es sei denn, man hätte sehr viel Geld gehabt. Aber das hatten sie ja nicht, das meiste Vermögen hatten sie durch die Machtergreifung Hitlers verloren, so dass sie auch in England auf die Unterstützung einer Schwester von Paula Löwenstein, die nach England geheiratet hatte, angewiesen waren.
Zum Geburtsjahr ihres Bruders, 1912, gibt es eine Anekdote: „Ich habe mir ja sein Geburtsjahr sozusagen ausgeliehen“, sagt sie halb verschmitzt, halb ernst, und ergänzt sofort, „das hat mir mein Bruder leider übel genommen. Es war doch so, dass mein erster Gedichtband 1959 erschien, und da wäre ich schon fünfzig Jahre alt gewesen. Und da hat mir jemand vom Verlag empfohlen, mich einfach etwas jünger auszugeben. Also nahm ich das Geburtsjahr meines Bruders 1912.“
Dieses Geburtsjahr steht noch in vielen Büchern, auch in Lexika. Erst an ihrem 90. Geburtstag hat Hilde Domin ihr „kleines Geheimnis“ gelüftet und ihr wahres Geburtsjahr 1909 öffentlich gemacht. „Leider hat es mein Bruder nicht mehr erlebt. Er ist ein Jahr zuvor gestorben“, sagt sie mit Bedauern.
„Bei der Armee in Amerika haben sie erkannt, wie intelligent er war,“ fährt sie fort zu erzählen. „Sie haben ihn nach London an ein Militärmuseum der Armee geschickt und später nach Oberammergau, wo die Amerikaner eine Art Hochschule hatten, an der Offiziere unterrichtet wurden. Und obwohl er kein Abitur hatte, wurde er dort eine Art Dozent. Er soll ein hervorragender Dozent gewesen sein. Der amerikanische Außenminister Kissinger war übrigens ein Kollege von ihm.“
Hilde denkt gern an die Kinderjahre mit ihrem Bruder zurück.
Sie war, was auch heute noch für sie kennzeichnend ist, ein offenes und kommunikatives Kind, das auf die Menschen zuging. So erinnert sie sich zum Beispiel an ihren ersten Schultag, als sie ihrer Lehrerin hinterherlief, sie am Rock zupfte und ihr sagte, sie habe von ihr geträumt, was bei der Lehrerin Verlegenheit ausgelöst hat. Schon früh war ihr eigen, was für sie charakteristisch bleiben sollte: sich nicht um den „common sense“ zu kümmern, weder zu sagen noch zu tun, was man sagt oder tut. Und genau das ist es, was sie jungen Menschen ans Herz legt: auf die innere Stimme zu hören und nicht auf das zu achten, was gerade „in“ ist.
Auch am Ende ihrer Schullaufbahn stand ein Ereignis, das sie als „enfant terrible“ auswies, das sich in keiner Weise konformistisch verhielt. In der Anwaltsrobe ihres Vaters verlas sie bei der Abiturfeier eine gereimte Anklageschrift auf die Schulzeit, die einer Lehrplankritik gleichkam, und löste damit bei den Mitschülerinnen (und vielleicht auch einigen Lehrern) große Zustimmung aus. „Es wurde viel gelacht, zu viel gelacht“, erzählt Hilde Domin. Und die Folge wäre beinahe fatal gewesen. „Nach diesem Auftritt in meines Vaters Robe war von Zeugnisverweigerung die Rede.“
Auch in der Schule vertrat sie die Interessen ihrer Mitschülerinnen. Sobald das Amt eingeführt wurde, wählte man sie zur Klassensprecherin. Und als eine Mitschülerin an Kinderlähmung erkrankte und lange Zeit nicht in die Schule kommen konnte, war sie es, die mit dem Mädchen gemeinsam die Schulaufgaben machte.
Hilde Domin formulierte 1978 in ihrer „Römerberg-Rede“ ihr wichtigstes Credo so: „Das ›Wunder‹, ein im Lichte der Vernunft – um es mit Spinoza zu sagen – mögliches Wunder, für das hier Bereitschaft verlangt wird, besteht für mich darin, nicht im Stich zu lassen. Sich nicht und andere nicht. Und nicht im Stich gelassen zu werden. Das ist die Mindest-Utopie, ohne die es sich nicht lohnt, Mensch zu sein.“ Viele ihrer Gedichte sprechen von diesem „Nicht-im-Stich-Lassen“, wie sie es schon als junges Mädchen an der erkrankten Mitschülerin praktiziert hat.
Dass Hilde Domin einer jüdischen Familie entstammte, bekam erst durch den Machtantritt Hitlers und die damit verbundene Verfolgung der Juden, die auch sie und ihre Familie ins Exil zwang, für sie Bedeutung. Ihre Kindheit wurde nicht durch jüdische Feste und Riten geprägt, sondern durch Weihnachten, Ostern und Nikolaus; denn ihre Eltern waren keine Glaubensjuden. Obwohl sie und ihr Bruder von klein auf wussten, dass sie Juden waren, war doch dieser Begriff nichts wirklich Lebendiges für sie. Und ihr Vater, von ihr dazu befragt, konnte es ihr nicht recht erklären und sagte, es sei für ihn nicht von Bedeutung, er fühle sich nur als Deutscher. Soweit er sich überhaupt mit einem Juden identifiziert habe, so sei das Heinrich Heine gewesen. Auch der war ja Düsseldorfer gewesen. Ihn betrachtete er wie einen nahen Verwandten.