Hilde Domin. Ilka Scheidgen
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Hilde Domin - Ilka Scheidgen страница 7
Und dann war da noch das für ihre persönliche Zukunft einschneidendste Erlebnis: Am ersten Tag des Sommersemesters 1931 lernte sie den Archäologiestudenten Erwin Walter Palm kennen. In der Mensa begegneten sie sich das erste Mal und begannen das Gespräch, das 56 Jahre lang währen sollte – der Beginn einer Zweisamkeit, deren Verlust Hilde Domin in dem FAZ-Fragebogen als das größte Unglück bezeichnete. Das war vor dem Tode ihres geliebten Mannes im Jahre 1988.
Palm war gerade erst in Heidelberg angekommen und fragte die hübsche Studentin mit den ausdrucksvollen Augen, als sie gemeinsam in der Essensschlange standen, wo sie wohne. Dem Charme des gut aussehenden jungen Mannes hat sie keinen Augenblick widerstehen können. Und so entschied sich ihrer beider gemeinsames Leben in diesen Minuten ihrer Begegnung.
Fortan gingen sie gemeinsam in die Vorlesungen und Seminare von Jaspers, lasen auf ihrem Studentenzimmer gemeinsam Plato und tauschten in der Aula sehnsuchtvoll Zettelchen miteinander. Es war Sommer. Hilde und Erwin paddelten gemeinsam auf dem Neckar bis hinauf nach Neckarsteinach. Und sie schwammen im Neckar, ganz so wie Hilde als Kind im Rhein geschwommen war. Abends gab es Tanzveranstaltungen. Und im Café Krall traf man sich mit anderen Studenten zu endlosen Diskussionen, denn dort durfte man bis Mitternacht sitzen bleiben, wenn man sich mit den so genannten „Krallinchen“, einem besonderen Gebäck für Studenten, für einen Preis von zehn Pfennigen den Eintritt und einen Sitzplatz „erkauft“ hatte.
Die Sitten waren damals noch streng. Wenn Hilde abends ihren Freund Erwin bei sich empfangen wollte, musste sie ihm den Hausschlüssel heimlich aus dem Fenster werfen. Hilde wohnte im berühmten „Thibauthaus“, das einen herrlichen Garten besaß, in dem sie beide ihre ersten Kaninchen hielten, ihren ersten gemeinsamen Besitz, bis zu ihrem Fortgehen aus Deutschland.
In diesem Haus, in dem sie zur Untermiete bei dem Flötisten Schmiedel wohnte, hatte Goethe den „Thibautschen Singabenden“ gelauscht. Und wahrscheinlich war auch er schon durch den wunderschönen Garten hinauf zum Schloss gegangen. Vielleicht waren sogar einige Gedichte des Diwanzyklus dort entstanden.
Hildes Studentenwohnung muss man sich durchaus komfortabel vorstellen. Es handelte sich um zwei hintereinanderliegende, durch einen Vorhang getrennte Zimmer, ein Schlaf- und ein Wohnzimmer, das mit Biedermeiermöbeln ausgestattet war.
Als die Mutter Hilde in Heidelberg besuchte und deren Freund kennen lernte, war sie sofort mit der Wahl ihrer Tochter einverstanden und akzeptierte ihn schon damals als ihren Sohn beziehungsweise Schwiegersohn, obwohl noch einige Jahre vergehen sollten, bis die zwei nach dem beiderseitigen Doktorexamen in Rom heirateten.
Hilde Löwenstein und Erwin Walter Palm hätten sich in ihrer Studienstadt Heidelberg und in dem wunderbaren Gefühl der Zusammengehörigkeit nun aufs Schönste einrichten können. Doch die Zeiten waren nicht danach. In der Karlstraße, wo Hilde wohnte, spielten bereits die Kinder „Umzüge“, je nach Parteizugehörigkeit der Eltern entweder kommunistische oder nationalsozialistische, und führten eine Art „Liederkrieg“ gegeneinander. Man begann zu ahnen, wie aufgeheizt die Stimmung der Anhänger beider extremer Parteien zu werden drohte.
Hilde Löwenstein, schon immer couragiert, wenn es Entscheidungen zu treffen galt, fühlte sich immer unbehaglicher und schlug Erwin vor, eine Studienreise nach Italien zu machen, zunächst wegen seines Arbeitsgebietes, der antiken Stätten. Als Land zukünftiger Studien war Italien allerdings nicht vorgesehen. Ursprünglich dachten beide an die Schweiz als mögliches Studienland. Auf jeden Fall wollten sie aus Deutschland fortgehen. Hilde rechnete damit, dass die Nazis an die Macht kommen würden.
Auf der Fahrt in die Schweiz erlebten sie in Freiburg die emotional hoch aufgeputschte Stimmung in der deutschen Bevölkerung. Es war der Wahlsonntag des 20. Juli 1932. „Man sah die engen Straßen nicht, so zugehängt waren sie mit roten Transparenten und Hakenkreuzfahnen. Unter den Fahnen, Knäuel von Menschen, Trupps von grölenden Halbwüchsigen. Die Luft war zum Schneiden, wie vor einem Gewitter“, beschreibt Hilde Domin die Erinnerung in „Randbemerkungen zur Rückkehr“.
Auf der Weiterreise in Basel angekommen, glaubten sie, einem Alptraum entronnen zu sein, so friedlich war hier die Stimmung. „Die Luft war so frei von Kalamität und Desaster, als habe Gott mit einer großen Spritze alle Straßen blankgesprengt.“
Gerade dieser Kontrast machte ihnen in aller Klarheit deutlich, dass in Deutschland nur noch mit dem Schlimmsten zu rechnen sei. „Es war, als sei schon alles entschieden, und alles sei verloren“, sagt sie rückblickend auf dieses Erlebnis.
Für Hilde Domin stand nun erst recht außer Frage, dass für sie beide als Juden in Deutschland kein Platz mehr sein konnte. Rückblickend erkannte sie, wie wichtig dieser Schritt in die Freiheit gewesen ist, der erste von vielen weiteren, der erste ins noch „probeweise Exil“ vor den weiteren der erzwungenen Exile:
„Wie ich versuche, über das Verlassen der Heimat zu sprechen, entdecke ich zu meinem Erstaunen, dass offenbar die Tatsache, daß ich im Jahre 1932 dem Zwang zuvorgekommen bin, daß ich (…) in sehr jungen Jahren mich selber entschied, wissend, daß schon alles entschieden war, daß dies freiwillige Aufgeben des in Wahrheit schon Verlorenen mein ganzes Leben bestimmt zu haben scheint. Es hat meinen Freiheitsbegriff geprägt. Nicht so sehr, daß ich ›in die Freiheit’ ging, sondern dass ich mir die Freiheit nahm zu gehen.“
Italien sollte es also sein. Rom. Doch einmal dort angekommen, erwies die Stadt sich als das, was sie im Grunde von vornherein gewesen war: die erste Station ihres langjährigen Exils, das hier im Oktober 1932 begann.
Dichterisch formulierte Hilde Domin später diese weitere Paradoxie ihres Lebens in dem Gedicht „Ziehende Landschaft“, dem ersten ihres ersten Gedichtbandes „Nur eine Rose als Stütze“.
Ziehende Landschaft
Man muß weggehen können
und doch sein wie ein Baum
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muß den Atem anhalten,
bis der Wind nachläßt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt…
Die Lebensthemen von Hilde Domin sind in diesem frühen Gedicht angesprochen: Verlassen der Heimat, Bewahren der „Wurzel“, die sowohl die Heimat als auch die deutsche Sprache versinnbildlichen kann. Und der Wille, sich auch die Fremde anzuverwandeln, bis sie „die alten Muster zeigt“ und man selbst in der Fremde – „wo es auch sei“ – durch diesen Bewusstseinsakt so etwas wie ein Zuhause haben kann.
Um dies so erleben zu können, war es für Hilde Domin wichtig, Subjekt und nicht Objekt der politischen Umstände zu sein. In ihrem Roman „Das zweite Paradies“ hat sie das Weggehen so beschrieben: „Es war ein guter Tag, denn du konntest noch aufrecht fortgehen, du fielst