GEWAHR SEIN. Daniel Siegel

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GEWAHR SEIN - Daniel Siegel

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bietet, um Aufmerksamkeit, Gewahrsein und Absicht zu verändern. Wenn Sie mein Buch Mindsight gelesen haben, erinnern Sie sich vielleicht daran, dass ein 16-jähriger Patient, den ich Jonathan nenne, die Übung mit dem Rad nutzte, um mit heftigen Stimmungsschwankungen fertigzuwerden, die großes Leid in seinem Leben schufen. Indem er absichtlich mithilfe der Rad-Übung einen bestimmten Zustand über einen längeren Zeitraum herbeiführte, gelang es Jonathan, eine neue Qualität emotionalen Gleichgewichts in sein Leben zu bringen. Mit seinen eigenen Worten: »Ich nehme all jene Gefühle und Gedanken einfach nicht mehr so ernst – und sie nehmen mich nicht mehr auf einen derart wilden Ritt mit.« Die Rad-Ideen und -Übungen ermöglichten es Jonathan, die erlernten Konzepte und die entwickelten Fertigkeiten absichtsvoll anzuwenden, um regelmäßig einen Geisteszustand zu schaffen, der wahrscheinlich eine bestimmte Folge neuronalen Feuerns im Gehirn bewirkte. Dieses wiederholte Muster funktioneller neuronaler Aktivierung kann sodann zu einer Veränderung in der strukturellen neuronalen Verbindung werden. Dies ist ein konkretes Beispiel dafür, wie wir einen absichtlich geschaffenen Zustand zu einer gesunden Eigenschaft in unserem Leben machen können.

      Mona, eine 40-jährige Mutter dreier Kinder unter zehn Jahren, sah sich häufig am Ende ihrer Kräfte. Sie bekam wenig Hilfe von ihrem Mann, der Familie oder Freunden, und war schnell gereizt, und dann wütend auf sich selbst, weil sie sich so fühlte.

      Mona kam zu einer meiner Workshops und begann, das Bewusstseinsrad als regelmäßige Übung durchzuführen. Sie entdeckte, dass es ihr mit der Zeit leichter gelang, die Nabe des Gewahrseins zu erreichen, und dass ihr das ermöglichte, zu entscheiden, wie sie sich verhalten wollte. Zugleich merkte sie, dass ihre Resilienz angesichts der täglichen Herausforderungen mit drei Kindern wuchs. Monas Erziehungstil verwandelte sich durch die Integration ihres Bewusstseins von einem wiederholten Reaktiv-Sein in ein zuverlässiges Empfänglich-Sein. In der Reaktivität war sie chaotisch oder starr in ihrem Innenleben oder in ihrem äußeren Verhalten geworden; die Empfänglichkeit ließ sie flexibler werden und führte zu einer besser integrierten Art des Seins mit ihren Kindern und sich selbst. Mona konnte nun präsenter und liebevoller mit ihren Kindern umgehen und auch freundlicher und fürsorglicher mit sich selbst sein.

      Entwicklungstrauma ist ein Begriff, den wir für heftige stressige Ereignisse in den frühen Lebensjahren benutzen; beispielsweise für Missbrauch oder Vernachlässigung von Kindern. Manche verwenden einen verwandten Begriff für ein weiteres Spektrum früher Schwierigkeiten im Leben: negative Kindheitserfahrungen. Der folgenreiche Einfluss eines solchen Entwicklungstraumas, und wahrscheinlich auch bei weniger intensivem negativem Stress in der Kindheit, besteht darin, die Entwicklung der Integration im Gehirn zu beeinträchtigen – eine Auswirkung, die, glücklicherweise, für gewöhnlich geheilt werden kann. Integration im Gehirn, das, was wir als neuronale Integration bezeichnen, ist nötig, um uns Gleichgewicht im Leben zu verschaffen, und zwar im Hinblick auf Exekutivfunktionen, die Emotion und Stimmung, Denken und Aufmerksamkeit und selbst Beziehungen und Verhalten regulieren. Teresa kämpfte mit jedem dieser Bereiche und erbat sich Hilfe von mir. Seit 25 Jahren kämpfte sie mit den Nachwirkungen einer traumatischen Kindheit, und das ist beispielhaft für das wichtige Prinzip von Chaos oder Erstarrung in Beziehungen, die zu beeinträchtigter neuronaler Integration führten. Nachdem sie langsam Vertrauen zu mir aufbaute, und bereit war, sich für die Verwundungen zu öffnen, die ihre Eltern ihr durch den Missbrauch zugefügt hatten, stellt ich ihr die Idee und die Übung des Rads vor.

      Für viele, die überwältigenden und furchterregenden Ereignissen ausgesetzt waren, insbesondere von Menschen, die sie hätten beschützen und für sie sorgen sollen, kann die Erfahrung, zwischen dem Gewahrsein (in der Nabe) und dem, dessen wir gewahr sind (auf dem Rand), zu unterscheiden, zunächst sowohl neu als auch aufwühlend sein. Warum? Ein Grund dafür könnte der sein: Wenn wir uns des eigenen Gewahrseins gewahr werden, also der metaphorischen Nabe des Rads, können wir einen Zustand der Offenheit und erweiterten Möglichkeit erfahren, der sich vom Gefühl der Sicherheit unterscheidet, das sich einstellt, wenn wir nur des metaphorischen Rands des Gewussten gewahr sind. An »vertrauten Orten« auf dem Rand »verloren zu gehen« – selbst dann, wenn diese Empfindungen, Gedanken oder Gefühle von Trauma und mangelnder Fürsorge herrühren –, kann ironischerweise beruhigender sein als der Zustand von Unsicherheit und Freiheit, also die Erfahrung der Nabe. Das Muster, in den Geisteszustand des Missbrauchs hineingezogen zu werden, in jene Elemente am Rand, könnte sich wie eine passive Opferrolle oder auch wie ein aktiver wütender Zustand des Zurückschlagens anfühlen. Diese Zustände offenbaren, wie wir reaktiv auf Bedrohung antworten. Für Teresa bedeutete reaktiv zu sein, manchmal angsterfüllt vor Herausforderungen fliehen zu wollen, oder manchmal auch, die zu bekämpfen, die sich mit ihr verbinden und sie unterstützen wollten. Was Teresa brauchte, war, vom Reaktivins Empfänglich-Sein zu wechseln. Offen und zugänglich für Verbindung zu sein ist keine passive Haltung, doch einer traumatisierten Person kann es wie ein Aufgeben und eine Bedrohung, verletzt und im Stich gelassen zu werden, erscheinen. Mit den Begriffen des Rads ausgedrückt, Teresas Reaktivität könnte als eine Folge des gewohnheitsmäßig Gewussten angesehen werden, des Kämpfens, Fliehens, Erstarrens und sogar des Ohnmächtig-Werdens, das Erbe wiederholter reaktiver Zustände ihrer Kindheit, die nun zu Merkmalen oder automatischen Tendenzen ihres Erwachsenenalters geworden waren.

      Dies ist ein wichtiges allgemeines Prinzip. Was wiederholt praktiziert wird, verstärkt das neuronale Feuern in Gruppen oder Mustern. Durch Wiederholung wird die neuronale Struktur buchstäblich verändert. So werden wiederholte Zustände zu dauerhaften Merkmalen.

      Sie dürften bemerkt haben, dass in jedem dieser Beispiele eine einfache wissenschaftliche Tatsache offenbart wird. Ich fasse dieses grundlegende Prinzip der Integration des Geistes zusammen:

       Wohin die Aufmerksamkeit geht, findet neuronales Feuern statt und es bilden sich neuronale Verbindungen.

      Für Teresa, wie für viele andere, bot das Rad eine Chance, die Autopilotzustände der Reaktivität zu verlassen und ihren Geist für neue Möglichkeiten des Seins und Tuns zu öffnen. Einen erwachten Geist zu haben bedeutet, die mentalen Prozesse der Aufmerksamkeit, des Gewahrseins und der Absicht zu nutzen, um neue Geisteszustände zu schaffen, die durch wiederholte Übung zu absichtlich geformten Eigenschaften werden können. Wenn diese Eigenschaft ein integrierter Geist ist, heißt das, dass wir von automatischer Reaktivität ohne Wahlmöglichkeit dazu übergehen können, uns frei zu entscheiden, wie wir antworten wollen. So könnte ein integriertes Bewusstsein Teresas Leben verändern: Durch wiederholte Übung könnte sie ihre Aufmerksamkeit, ihr Gewahrsein und ihre Absicht darauf richten, eine besser integrierte Lebensweise zu schaffen – die Grundlage der eudaimonia.

      Die Nabe des Rads repräsentiert das vom Gewahrsein Gewusste und ist die Quelle des empfänglichen Bewusstseins. Sie steht für offen und zugänglich zu sein, um sich mit allem, was auf dem Rand auftaucht, zu verbinden und sich nicht auf jenem Rand zu verlieren oder daran festzukleben, aufgebraucht vom Gewussten des Lebens. Auf diese Art und Weise könnte die Rad-Metapher Teresa helfen, sich ihres Gefängnisses gewahr zu werden, zu dem ihr Geist trainiert worden ist. Wenn Erfahrung sie lehren konnte, wie es ist, in einem Gefängnis zu sein, könnte eine absichtsvolle und wiederholte integrative Erfahrung – wie etwa die Übung mit dem Rad – sie lehren, sich selbst aus diesem Gefängnis zu befreien.

      Ideen sind wunderbar, aber manchmal, und tatsächlich recht häufig, ist auch Praxis vonnöten, um damit anzufangen, neue Seins- und Verhaltensweisen zu erfahren und diese befreienden Ideen tief in uns zu verankern, indem wir ihre Bedeutung in unserem Alltag leben.

      Wenn Teresa in Panik geriet, als sie anfangs die Nabe des Rads erkundete – als Teil einer Übung, die wir später besprechen werden –, legten wir eine Pause ein und erforschten, um was es sich bei der Erfahrung der Angst handelte. Wie bei vielen anderen Menschen, die irgendeine Form von Trauma erfahren haben, kann der anfängliche Fokus auf den Körper, auf Emotionen im Allgemeinen oder auf

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