Die Weisheit eines offenen Herzens. Thubten Chodron
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Wenn Kinder keine gute Bildung erhalten und außerschulische Aktivitäten wie beispielsweise Sport gestrichen werden, kann es leicht passieren, dass sie in die Drogenszene abrutschen. Der Drogenkonsum kostet jedoch Geld, also beginnen manche von ihnen zu stehlen. Die Läden, die sie ausrauben und die Häuser, in die sie einbrechen, gehören oftmals den Leuten, die gegen eine Erhöhung der Einkommensteuer stimmen. Wenn Kinder keinen Zugang zu den Einrichtungen und der Bildung haben, die sie brauchen, und ihre Familien, Schulen und die Gesellschaft im Allgemeinen nicht gut für sie sorgen, hat das negative Folgen für uns alle. Wir sind alle miteinander verbunden.
Wir mögen uns durchsetzen, wenn wir uns nur um uns selbst und die uns nahestehenden Menschen scheren, aber es wird fast immer auf uns zurückfallen, wenn wir andere demütigen und ihr Leid ignorieren. Alle Konflikte und Kriege der Weltgeschichte bezeugen diese Tatsache. Wenn wir also selbst glücklich sein wollen, müssen wir auch das Glück anderer im Blick haben. Anstatt manche Menschen als „Feinde“ zu betrachten, deren Bedürfnisse keine Rolle spielen, können wir zu ihrem Wohlergehen beitragen. Weil wir sie als Menschen achten, ihnen helfen, ihre Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinische Versorgung zu erfüllen, und ihren Wunsch respektieren, akzeptiert zu werden, Liebe und Fürsorge zu empfangen und zu geben und zum Gemeinwohl beizutragen, gibt es keinen Grund für sie, uns feindlich gegenüberzutreten, denn wir haben alles getan, damit sie glücklich sein können und ihr Leiden enden kann. Ein Feind wird zum Freund. In der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, manche sogar aus unserer Zeit. Großbritannien und die USA betrachteten beispielsweise Deutschland und Japan in den 1940er Jahren als Feinde und heute sind diese Länder Verbündete, die gut zusammenarbeiten.
Die Menschen sind heutzutage abhängiger voneinander als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Anders als vor Jahrhunderten bauen heute nur noch sehr wenige Menschen ihre eigene Nahrung an, stellen ihre Kleidung selbst her oder bauen ihre Häuser selbst. Viele von uns wissen gar nicht, wie man das macht, und so sind wir abhängig von Leuten, die das können. Wir sind auch abhängig von den Menschen, die unsere Straßen bauen oder bestimmte Technologien entwickeln, sowie von denen, die uns alles beibringen, was wir wissen, um nur ein paar zu nennen. Wenn uns erst einmal bewusst wird, dass wir untrennbar miteinander verbunden sind, erkennen wir, dass gegenseitige Fürsorge heute unverzichtbarer ist als je zuvor.
Bei einem Treffen mit Großstadtkindern, die in Stadtvierteln mit hoher Kriminalität leben und daher gefährdet sind, selbst zu Gewalttätern zu werden, sagte der Dalai Lama: „Gewalt ist altmodisch. Krieg ist altmodisch. Wir verfügen über ein so hoch entwickeltes Gehirn wie keine andere Spezies, also müssen wir unsere Intelligenz benutzen, um einander zu helfen. Dann werden wir alle profitieren und in Frieden miteinander leben.“ Mitgefühl ist der Weg dorthin.
BETRACHTUNG
Mitgefühl in die Welt tragen
Stellen Sie sich eine Situation in der Welt oder in Ihrem eigenen Leben vor, die durch Mitgefühl verbessert werden könnte. Stellen Sie sich vor, wie anders diese Situation sein könnte, wenn die daran beteiligten Menschen mitfühlend empfinden, denken und handeln würden und wünschten, dass andere nicht leiden müssen.
4 Echtes Mitgefühl
Mitgefühl ist eine innere Qualität, die man bewusst kultivieren kann. Anders als geistige Zustände, die einer verzerrten Wahrnehmung und falschen Vorstellungen entspringen, wie beispielsweise Wut und Habgier, entsteht Mitgefühl aus einer rationaleren inneren Haltung, die weder die positiven noch die negativen Seiten einer Person, einer Sache, Idee oder Situation aufbauscht. Außerdem beeinflusst Mitgefühl unsere anderen Gedanken und Emotionen. Wut, Eifersucht und Feindseligkeit können durch Mitgefühl aufgelöst werden, während die Liebe bewusst kultiviert und vertieft werden kann.
Mitgefühl ist nicht wie ein Brunnen, der eines Tages austrocknet. Im Gegenteil: Je mehr wir unser Herz mitfühlend öffnen, desto größer wird unser Mitgefühl. Und es ist nicht so, dass wir, wenn wir Mitgefühl für eine Gruppe empfinden, nicht mehr genügend für eine andere Gruppe übrig haben. Mitgefühl dehnt sich aus, je mehr da ist, desto mehr wird da sein. Mitgefühl ist eine innere Haltung, die sich in unserem Verhalten ausdrücken kann, doch es ist nicht das Verhalten an sich, denn ein und dasselbe Verhalten kann unterschiedlichen Motiven entspringen. Wir pflegen vielleicht einen erkrankten Angehörigen, weil wir echte Zuneigung für ihn empfinden. Aber es kann auch sein, dass wir ihn pflegen, weil wir sein Haus erben wollen. Die Handlung ist dieselbe, aber die Motivation ist unterschiedlich. Die erste entspringt echter Zuneigung, die zweite der Selbstsucht.
Mitfühlendes Handeln erfordert, dass wir kreativ sind und wissen, dass nicht in jeder Situation dasselbe Verhalten angebracht ist. In manchen Situationen kann es ein Zeichen von Mitgefühl sein, wenn wir teilen, was wir besitzen, während wir unter anderen Umständen vielleicht Mitgefühl zeigen, indem wir „Nein“ sagen. Mitgefühl muss also mit einem guten Urteilsvermögen einhergehen.
BETRACHTUNG
Mitfühlende Absicht
Versuchen Sie im Laufe des Tages Ihre Absicht, Mitgefühl in die Situationen hineinzubringen, mit denen Sie konfrontiert werden, kreativ umzusetzen. Denken Sie beim Geschirrspülen beispielsweise daran, dass sie es tun, damit andere essen können, ohne krank zu werden. Wenn Sie mit anderen kommunizieren, tun Sie es mit der Absicht, den Tag dieser Menschen ein bisschen heiterer zu machen. Wählen Sie ein paar Situationen aus, mit denen Sie im Alltag regelmäßig konfrontiert werden, und experimentieren Sie damit, eine mitfühlende Absicht hineinzubringen. Schauen Sie, wie das Ihr Erleben der jeweiligen Situation beeinflusst.
5 Falsche Vorstellungen loslassen und Frieden mit unseren Ängsten schließen
Wenn wir das Wort „Mitgefühl“ hören, kommen uns verschiedene Bilder in den Sinn: eine Mutter, die zärtlich für ihr Kind sorgt, Mutter Theresa, die sich liebevoll um Sterbende kümmert, Anteilnahme am Leid anderer. Das Wort kann aber auch andere, weniger positive Assoziationen auslösen: das Gefühl, vom Leid anderer erdrückt oder überfordert zu werden, die Furcht, ausgenutzt zu werden, oder Dinge zuzulassen, mit denen man eigentlich gar nicht einverstanden ist.
Die wahre Bedeutung von Mitgefühl zu verstehen, ist gar nicht so leicht. Hier ist Kontemplation notwendig, und wir müssen Frieden mit unseren Ängsten schließen und falsche Vorstellungen loslassen. Dadurch öffnet sich unser Herz für uns selbst und andere auf eine Weise, wie wir es nie zuvor für möglich gehalten hätten.
Eine falsche Vorstellung ist die, Mitgefühl bedeute, jemanden zu bemitleiden. Stellen Sie sich vor, Ben stellt sich mit einer überlegenen Attitüde vor einen Obdachlosen und denkt: „Wie schrecklich! Armer Teufel! Du tust mir leid“, wobei unausgesprochen mitschwingt: „Es ist eine Schande, dass du nicht so intelligent bist wie ich und dumme Sachen gemacht hast, so dass du auf der Straße gelandet bist.“ Das ist kein Mitgefühl, sondern Herablassung gemischt mit Bemitleiden.
Anderen mit Mitgefühl zu begegnen bedeutet, sie als gleichwertig zu betrachten. Wir sind alle Menschen, die nach Glück streben und nicht leiden wollen. Shantideva,