Die Weisheit eines offenen Herzens. Thubten Chodron
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Geist und Gehirn
An verschiedenen Stellen des Buches werden wir über den menschlichen Geist, das Gehirn und die Interaktion zwischen beiden sprechen, es ist also von Vorteil, zunächst einmal zu definieren, was wir mit dem einen und dem anderen meinen. Mit „Geist“ meinen wir die mentale und emotionale Aktivität – jenen Teil von uns, der denkt, wahrnimmt, fühlt und erlebt. Das schließt die bewussten, kognitiven, intelligenten und gefühlsbedingten inneren Anteile von uns als menschlichen Wesen ein. Anders als das Gehirn besteht der Geist nicht aus Materie.
Buddhisten sehen den Geist als reine Klarheit und reines Gewahrsein. Klarheit bezieht sich dabei auf die immaterielle Natur des Geistes sowie auf den Geist als Spiegel, der alles reflektiert, was vor ihm auftaucht. Gewahrsein weist auf die Fähigkeit des Geistes hin, wahrzunehmen, zu erleben und uns mit Dingen zu beschäftigen.
Die Natur des Geistes ist grundsätzlich rein, klar und unberührt, obwohl er manchmal von störenden inneren Zuständen vernebelt ist, wie Anhaftung, Wut und Verwirrung. Eine Analogie kann hier hilfreich sein: Der Geist gleicht dem klaren Himmel, während seine Inhalte – Gedanken, Emotionen und so weiter – wie Wolken sind, die über den Himmel ziehen. Die himmelsgleiche Natur des Geistes an sich ist rein, die Wolken (Gedanken und Emotionen) sind kein inhärenter Bestandteil davon. Störende oder verstörende Gefühle trüben den Geist, sodass wir die Dinge nicht sehen können, wie sie wirklich sind. Glücklicherweise kann das aufgelöst werden, indem wir Weisheit entwickeln, die uns befähigt, die reine, himmelsgleiche Natur unseres Geistes zu erkennen.
Das Gehirn ist dagegen ein physisches Organ, das sich im Laufe der Evolution weiterentwickelte, aus Neuronen genannten Zellen besteht und mithilfe komplexer elektro-chemischer Prozesse funktioniert. Die Interaktion zwischen Geist und Gehirn ist kompliziert und das ist beispielsweise ein Bereich, in welchem wir leicht abweichende Standpunkte vertreten. Chodron betrachtet die Beziehung zwischen Gehirn und Geist als korrelativ: Sie ist der Ansicht, dass das Gehirn mentale Aktivitäten und Emotionen oft spiegelt oder reflektiert, sie aber kaum verursacht. Russell stellt mehr die Rolle des Gehirns als „Produzent“ unseres Erlebens der Realität in den Vordergrund und betrachtet seine physische Aktivität als Teil der Kausalkette, die unsere mentalen und emotionalen Erfahrungen hervorbringt, auch wenn es selbst wiederum von diesen Erfahrungen geformt wird. Wenn es um das Kultivieren von Mitgefühl geht, tritt dieser Unterschied in den Hintergrund. Während die Standpunkte in unseren Beiträgen möglicherweise ein wenig voneinander abweichen, verfolgen wir mit diesem Buch dennoch dasselbe Ziel: aufzuzeigen, wie man lernen kann, Geist und Gehirn zu unserem Besten zu nutzen, um Mitgefühl zu entwickeln – für ein besseres Leben und eine bessere Welt.
Format und Übersicht
Wir haben dieses Buch geschrieben, um Ihnen praktische Werkzeuge an die Hand zu geben, mit deren Hilfe Sie Ihren Geist so transformieren können, dass Sie in der Lage sind, Ihren innersten Werten wie Güte, Mitgefühl und Großzügigkeit im Alltag Ausdruck zu verleihen, wie unspektakulär Ihre Aufgaben und Interaktionen auch erscheinen mögen. Und vielleicht stellen Sie, wenn Sie von Mitgefühl erfüllt sind, sogar fest, dass keine Aufgabe oder Interaktion banal ist.
Wir haben eine Reihe von kurzen Beiträgen zusammengestellt, die Ihnen als Inspirationsquellen dienen sollen und die Praktiken und Techniken vermitteln, die Sie im täglichen Leben umsetzen können. Diese Beiträge werden Ihnen helfen, zu erkennen, wie Sie Mitgefühl in Ihren Alltag hineinbringen und mit Hindernissen umgehen können, die Ihre Fähigkeit, mitfühlend zu sein, auf die Probe stellen. Jedem Beitrag folgt eine kurze Betrachtung, die das Reflektieren über und die Umsetzung der im betreffenden Beitrag angesprochenen Punkte unterstützt.
Die Beiträge sind in sechs Hauptabschnitte gegliedert:
• Teil I dreht sich um die Definition von Mitgefühl, klärt, was Mitgefühl ist und was nicht, und untersucht, warum es sich lohnt, es in unser Leben hineinzubringen.
• Teil II hilft uns, uns auf das Kultivieren von Mitgefühl vorzubereiten, indem wir andere sensibler wahrnehmen und verstehen lernen, wie unsere Emotionen funktionieren.
• In Teil III geht es konkret um die Frage, wie man Mitgefühl entwickeln und kultivieren kann. Hier wird eine Reihe von Praktiken und Strategien vorgestellt, die uns helfen können, Mitgefühl in unser Alltagsleben zu bringen.
• Teil IV untersucht das Verhältnis zwischen Mitgefühl und unserer Art und Weise, uns mit anderen zu verbinden und mit ihnen zu kommunizieren.
• Teil V widmet sich den Hindernissen und Herausforderungen, mit denen wir beim Entwickeln und Kultivieren von Mitgefühl möglicherweise konfrontiert werden.
• Teil VI konzentriert sich auf spezifische Möglichkeiten, Mitgefühl in unser Leben zu bringen und in die Gesellschaft zu tragen.
Die Beiträge wurden zwar in einer bestimmten Reihenfolge geschrieben, aber die meisten können auch für sich allein gelesen werden. Vielleicht möchten Sie zunächst einfach ein bisschen im Buch blättern, ein zufällig aufgeschlagenes Kapitel lesen und im Laufe des Tages über diese Worte nachdenken. Da das Kultivieren von Mitgefühl ein Entwicklungsprozess und eine kontinuierliche Praxis ist, möchten Sie dieses Buch vielleicht immer wieder zur Hand nehmen und jedes Mal etwas mehr Wissen daraus beziehen.
Symbole
Da bei unserer eingehenden Betrachtung und Erforschung des Mitgefühls zwei verschiedene Traditionen zum Tragen kommen, dachten wir, es wäre vielleicht nützlich, zu wissen, wessen Stimme in den verschiedenen Beiträgen gerade im Vordergrund steht. Um daran zu erinnern, haben wir jedem Beitrag ein Symbol vorangestellt, um auf den Autor des jeweiligen Beitrags hinzuweisen. Russell wird durch das Symbol
, (den griechischen Buchstaben Psi) repräsentiert, das oft für das Gebiet der Psychologie verwendet wird. Chodrons Beiträgen ist ein Dharma-Rad , vorangestellt, ein bekanntes buddhistisches Symbol. Man sagt, der Buddha habe „das Rad des Dharma gedreht“, das heißt, er lehrte, wie das menschliche Potenzial voll entfaltet und verwirklicht werden kann. Den Beiträgen, an denen beide Autoren in etwa gleichem Maße mitgearbeitet haben, ist das Symbol eines Lotos vorangestellt . Der Lotos ist eine wunderschöne Blume, die aus dem Schlamm emporwächst, von ihm aber nicht beschmutzt wird. Menschen, die ihre Fähigkeit zum Mitgefühl in höchstem Maße entwickelt haben, können in der Welt mit all dem Leiden und der Verwirrung leben, ohne davon negativ beeinflusst zu werden. In der buddhistischen Kunst wird der Buddha oft auf einem Lotos sitzend oder stehend abgebildet. Unten finden Sie auch einen Hinweis darauf, wer von uns welchen Beitrag verfasst hat: