Die Weisheit eines offenen Herzens. Thubten Chodron
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Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt oft: „Wenn du willst, dass andere glücklich sind, praktiziere Mitgefühl. Wenn du selbst glücklich sein willst, praktiziere Mitgefühl.“ Warum stimmen der Dalai Lama und so viele andere darin überein, dass gerade diese innere Qualität es wert ist, entwickelt und kultiviert zu werden? Das Leben kann schwierig sein und wir sitzen alle im selben Boot. Sogar wenn wir in eine privilegierte Situation hineingeboren werden, Eltern haben, die uns lieben und gut versorgen, gutes Essen im Überfluss, ein schönes Zuhause und Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung haben, hat dennoch jeder von uns große Schwierigkeiten im Leben zu überwinden. Jeder von uns wird mit Krankheit, Altern und Tod konfrontiert. Jeder von uns verliert geliebte Menschen. Manchmal geben wir unser Bestes und scheitern dennoch. Die meisten von uns wissen, wie es ist, wenn einem das Herz gebrochen wird – nicht nur einmal, sondern mehrmals. Manchmal tauchen auch andere schmerzliche Gefühle auf: Angst, Traurigkeit, Wut oder innere Unruhe. Das ist der Schmerz, der zum menschlichen Dasein gehört. Das ist der „Eintrittspreis“. Hinzu kommt, dass viele von uns in Situationen hineingeboren werden, die die normalen Schwierigkeiten noch übersteigen: ein missbrauchendes oder vernachlässigendes Elternhaus, extreme Armut oder ein kulturelles Umfeld, in dem systematisch bestimmte Menschen bevorzugt und andere benachteiligt werden. Das Leben ist eine Herausforderung und die Chancen sind alles andere als gleich.
Angesichts all dieses Leidens und dieser Not ist Mitgefühl die einzig sinnvolle Antwort. Natürlich könnten wir eine ganze Reihe anderer Dinge tun. Wir könnten uns aufregen, nach Sündenböcken Ausschau halten und wütend auf sie werden. Wir könnten einfach die Augen vor all den Dingen verschließen, die uns missfallen, könnten schmerzliche Gefühle unterdrücken oder mit Drogen oder Alkohol betäuben. Wir könnten den Blick abwenden, wenn wir mit dem Leiden anderer konfrontiert werden oder ihnen sogar die Schuld daran geben. Das Dumme daran ist nur, dass die Herausforderungen des Lebens – seien es unsere eigenen Gefühle, die wir nicht haben wollen, oder Konflikte mit anderen Menschen oder die Probleme in der Welt – nicht verschwinden, wenn wir sie ignorieren. Im Gegenteil, sie werden im Allgemeinen größer.
Obwohl es gewiss nicht einfach ist, dem Schmerz und all den Schwierigkeiten ins Gesicht zu sehen, hat dies dennoch einen großen Vorteil. Wenn wir erst einmal aufgehört haben, unsere Probleme zu leugnen, vor ihnen zu flüchten oder sie zu ignorieren, können wir daran arbeiten, die Dinge zu verbessern. Mit Mitgefühl auf die Welt zu schauen befreit uns von dem Drang, uns selbst und andere dafür zu verurteilen und zu beschämen, dass wir ganz menschliche Gefühle haben. Stattdessen können wir lernen, innerlich ausgeglichener zu werden, damit wir das Beste aus uns hervorholen können. Unsere Zuversicht und unser Selbstvertrauen wachsen, wenn wir die Erfahrung machen, dass wir schwierige Gefühle und Situationen konfrontieren und aushalten können und daran arbeiten können, die Dinge zu verbessern. Dieses Selbstvertrauen hilft uns, das Leben zu nehmen, wie es ist, ohne von Ängsten und Sorgen aufgefressen zu werden. Es lässt uns von einer ängstlichen Grundhaltung, mit der wir ständig potenzielle Fehler oder Probleme wittern, auf eine offenere, gelassenere Haltung umschalten, mit der wir auf Herausforderungen antworten und dennoch die guten Dinge des Lebens genießen können und dankbar dafür sind.
Ich (Russell) habe eine Therapiegruppe in einem Gefängnis aufgebaut, in der wir mit der Compassion Focused Therapy arbeiten. Dieses Programm soll den dort einsitzenden Männern helfen, zu lernen, auf mitfühlende Weise mit ihrer Wut umzugehen. Viele von ihnen gehen mit großen Vorbehalten in die Gruppe, weil sie meinen, Mitgefühl bedeute, schwach und verwundbar zu sein, „ständig nett zu sein“. Aber im Laufe ihrer Teilnahme verändert sich ihre Einstellung zum Mitgefühl dramatisch, wenn sie entdecken, dass Mitgefühl Mut erfordert, den Mut, den Problemen des Lebens und den starken Gefühlen, die manchmal hochkommen, ins Gesicht zu sehen. Es braucht Mut und Engagement, dabei zu bleiben, das Unbehagen auszuhalten, das wir unweigerlich verspüren, wenn wir uns mit diesen Schwierigkeiten auseinandersetzen und lernen, damit zu arbeiten. Mitgefühl ist alles andere als Schwäche.
Und Mitgefühl hat noch weitere Vorteile. Indem uns klar wird, dass wir alle im selben Boot sitzen, hören wir auf, mit dem Finger auf andere zu zeigen oder den Kopf in den Sand zu stecken, und fangen an, einander zu unterstützen. Unser aller Leben ist voller Herausforderungen und wir alle haben manchmal mit intensiven Gefühlen zu kämpfen. Wir können diesen Herausforderungen besser begegnen, wenn wir einander ermutigen. Wenn wir Verantwortung übernehmen, falls wir diejenigen sind, die die Probleme verursachen. Wenn wir uns sicher, angenommen und geschätzt fühlen, sind wir in der Lage, mit den Problemen in unserem Leben umzugehen und verantwortlich auf sie zu reagieren. Das ist ein Geschenk, das wir uns selbst und anderen machen können, ein Geschenk, das dem Gebenden genauso viel gibt, wie dem Empfangenden.
BETRACHTUNG
Drei Schüler und drei Lehrer
Stellen Sie sich vor, drei Schüler versuchten, eine schwierige neue Aufgabe zu bewältigen, wie beispielsweise ein Instrument zu spielen oder ein Mathe-Problem zu lösen. Alle drei haben mit der Aufgabe zu kämpfen. Ein Kind hat einen Lehrer, der es ignoriert und seine Schwierigkeiten gar nicht wahrnimmt. Ein anderes hat einen ungeduldigen Lehrer, der es ständig darauf hinweist, welche Fehler es macht, und es kritisiert. Das dritte Kind hat einen mitfühlenden Lehrer, der es sanft führt und ihm vermittelt, dass diese Aufgabe anfangs schwierig ist, der es aber ermutigt „dranzubleiben“ und der die Fortschritte des Kindes in den Vordergrund stellt. Welches Kind wird die besten Ergebnisse erzielen? Welchen Lehrer würden Sie bevorzugen?1
3 Mitgefühl, wechselseitige Abhängigkeit und universale Verantwortung
Wir alle müssen lernen, miteinander als Brüder und Schwestern zu leben, oder wir werden zusammen als Narren untergehen. Das ist die große Herausforderung der Stunde. Das gilt für Individuen. Das gilt für Nationen. Kein Mensch kann für sich allein existieren. Keine Nation kann für sich allein existieren.
Martin Luther King
Wie Martin Luther King betonte, kann niemand von uns für sich allein existieren, wir alle sind voneinander abhängig. Was müssen wir lernen, um miteinander wie Brüder und Schwestern zu leben? Die Antwort heißt: Mitgefühl. Mitgefühl zu haben heißt, sich um das Leiden der anderen zu kümmern und ihnen zu wünschen, frei vom Leiden und seinen Ursachen zu sein. Mitgefühl ist eng mit der Liebe verbunden, die den Wunsch beinhaltet, dass alle lebenden Wesen Glück und seine Ursachen erfahren mögen.
Es ist sinnvoll, Mitgefühl zu haben. Wenn wir uns nicht um andere scheren, werden wir alle leiden: Entweder, weil unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, oder weil wir von unglücklichen Menschen umgeben sind – eine Situation, die unser eigenes Leben vergiftet. Aus diesen Gründen rät Seine Heiligkeit der Dalai Lama: „Wenn du egoistisch sein willst, dann sei intelligent egoistisch und hilf anderen.“
Mitgefühl braucht es in allen Bereichen unseres Lebens: auf einer persönlichen Ebene das Mitgefühl für uns selbst, für Freunde und Angehörige, für unsere Kollegen und unseren Chef und sogar für Leute, die uns manchmal lästig sind; auf einer kommunalen Ebene Mitgefühl einer Gruppe für eine andere; auf einer internationalen Ebene Mitgefühl der Bürger einer Nation für die Menschen anderer Nationen. Mitgefühl ist das Gegenteil von und das Heilmittel für unsere übliche Selbstbezogenheit, die uns drängt, das Beste und Meiste für uns selbst herauszuholen, um unser eigenes Glück sicherzustellen. Selbstbezogenheit bringt Schwierigkeiten