Die Weisheit eines offenen Herzens. Thubten Chodron
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Weisheit eines offenen Herzens - Thubten Chodron страница 9
Uff, da lädt die Hand eine Menge auf dem Fuß ab, der ja schon unter dem Dorn zu leiden hat. Weder die Hand noch der Fuß sind glücklich mit der Situation.
Wenn echtes Mitgefühl da ist, erkennen die Hand und der Fuß, dass sie Teil desselben Organismus sind. Da gibt es kein Machtgefälle, keinen herablassenden Ego-Trip, keine Schuldzuweisung oder Verpflichtung. Die Hand zieht einfach den Dorn aus dem Fuß, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Es ist ihr natürlicher Instinkt und es kommt beiden zugute. Wenn wir also anderen helfen, sollten wir auf unsere Motive achten und es mit echtem Mitgefühl tun.
Respekt für andere ist ein wesentliches Merkmal des Mitgefühls und echtes Mitgefühl fördert Respekt. Den meisten Menschen ist es wichtiger, respektvoll behandelt zu werden, als es physisch bequem zu haben. Diejenigen unter uns, die normalerweise mit Respekt behandelt werden, betrachten das vielleicht als selbstverständlich und verstehen gar nicht, wie essenziell das tatsächlich für uns ist. Menschen, denen Respekt versagt wird – Arme, Kranke, Behinderte, Inhaftierte und Unterdrückte –, kennen den Schmerz, den Respektlosigkeit verursacht, nur allzu gut.
Während eines Seminars, das ich (Chodron) über Mitgefühl hielt, bat ich meine Schüler, zu versuchen, täglich mindestens eine Tat aus echtem Mitgefühl heraus zu tun. In der folgenden Woche erzählte ein Schüler, dass er in der Innenstadt gewesen war, wo er eine Frau gesehen hatte, die auf dem Bürgersteig saß und bettelnd ihre Hände ausstreckte. Das hatte sein Mitgefühl geweckt und er wollte helfen. Er hatte nicht viel Geld bei sich, aber er zog einen Dollar aus der Tasche und überreichte ihn der Frau mit beiden Händen, während er ihr in die Augen schaute und sagte: „Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr geben, aber das ist alles, was ich bei mir habe.“
Die Frau blickte auf und schaute ihn mit Tränen in den Augen an. „Das ist das erste Mal, dass mich jemand mit Respekt behandelt hat, seit ich hier bin“, sagte sie, „das bedeutet mir mehr als das Geld.“
BETRACHTUNG
Mitgefühl und Respekt
Versuchen Sie, sich an eine Situation zu erinnern, in der Sie bemitleidet wurden und Sie dabei das Gefühl hatten, dass jemand auf Sie herabschaut oder Sie nicht respektiert. Falls Sie sich nicht an eine solche Situation erinnern können, stellen Sie sich vor, wie das für Sie wäre. Schauen Sie sich diese Gefühle an.
Rufen Sie sich jetzt eine Situation ins Gedächtnis, in der Ihnen jemand mit Mitgefühl begegnete – vielleicht respektvoll Hilfe anbot, als Sie sie brauchten, irgendetwas tat, um Ihren Tag schöner zu machen, oder einfach Ihre Hand hielt, als Sie traurig waren. Nehmen Sie auch hier wieder wahr, welche Gefühle das auslöst.
Nehmen Sie nun die unterschiedlichen Auswirkungen von Bemitleiden und respektvollem Mitgefühl auf Ihren inneren Zustand wahr. Unsere Haltung und unsere Einstellungen gegenüber anderen Menschen können einen enormen Einfluss auf deren Denken und Fühlen haben. Denken Sie darüber nach, welche Wirkung Sie auf andere haben wollen. Welche Gefühle möchten Sie in anderen wachrufen?
6 Mitgefühl bedeutet Mut
Wenn sie das Wort „Mitgefühl“ hören, denken manche Leute, es bedeute, auf alles einzugehen, was ein anderer Mensch will. Andere denken, Mitgefühl bedeute, zu versuchen, eine Welt zu schaffen, in der alles vollkommen ist und alle sich bei der Hand fassen und spirituelle Lieder singen. In dieser imaginären Welt hat kein Mensch je mit irgendetwas zu kämpfen, niemand weint, alle Konflikte werden sanft gelöst, es gibt keinen Schmerz und keine Schwierigkeiten und wir alle leben glücklich bis ans Ende unserer Tage.
Manche Menschen stellen sich unter Mitgefühl einen Zustand vor, in welchem man über allem steht, mit heiterer Gelassenheit alle weltlichen Probleme hinter sich lässt und unversehrt und unbeeinflusst von Schwierigkeiten durchs Leben geht. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wir mit einem feinen Lächeln durchs Leben schweben, mit anderen auf eine Weise kommunizieren, die sie wie durch Zauberhand sofort und mühelos von ihren inneren und äußeren Kämpfen befreit und sie inspiriert, ihr Leben um 180 Grad zu drehen. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wundervoll die Welt wäre, wenn nur jede(r) die Welt von unserem Standpunkt aus betrachten würde und wenn diese armen Menschen verstehen könnten, was wir verstehen.
Hier eine Kurzmeldung: Das hat mit Mitgefühl nichts zu tun. Es ist Selbstgefälligkeit und riecht nach etwas, das Chögyam Trungpa „Narren-Mitgefühl“ nannte. Mitgefühl ist weder abgehoben noch versponnen. Es ist nicht anmaßend. Es bedeutet nicht, immer nur nett zu sein und es gemütlich zu haben, und es ist auch keine Ausrede dafür, sich anderen überlegen zu fühlen.
Stellen Sie sich vor, Sie wären Installateur und jemand riefe Sie an, weil seine Toilette nicht mehr richtig funktioniert. Er berichtet von einem schrecklichen Geruch, der von unterhalb des Hauses nach oben zieht, was auf ein Leck in einem Abwasserrohr hinweisen könnte, das erneuert werden muss. Wir kommen in unserer sauberen, weißen Arbeitskleidung an, unterhalten uns mit dem Kunden über das Problem und geben gut gemeinte Ratschläge: „Diese Dinge erledigen sich oft von selbst. Achten Sie darauf, dass Sie keine verkehrten Sachen in die Toilette werfen. Trinken Sie eine schöne Tasse Tee, essen Sie einen Keks und Sie werden sich gleich besser fühlen.“ Das ist alles gut und schön, aber es wird das Problem nicht lösen. Wir müssen den Kanalzugang unter dem Haus öffnen, hineinkriechen, um das Problem zu diagnostizieren, unser Werkzeug durch den Dreck schleifen und das geborstene Rohr reparieren. Es wird ungemütlich sein. Der Geruch wird sehr unangenehm sein. Die weiße Arbeitskleidung wird definitiv schmutzig werden. Aber das ist es, was getan werden muss, wenn wir helfen wollen.
Und so setzt auch Mitgefühl eine Bereitschaft voraus, mit dem Schmerz und dem Leiden in Berührung zu kommen – unserem eigenen und dem Leid derjenigen, denen wir helfen wollen. Mitgefühl setzt voraus, dass wir dableiben, wenn es ungemütlich wird, dass wir die schwierigen Gefühle aushalten, die hochkommen, wenn wir in Kontakt mit dem Leiden kommen und mit denen, die es durchmachen. Mitgefühl bedeutet Mut.
Es ist nicht leicht, mit Menschen zusammen zu sein, die leiden. Und das hat auch etwas mit unserer Gehirnstruktur zu tun: Bestimmte Zellen in unserem Gehirn, sogenannte „Spiegelneuronen“ erlauben uns, bis zu einem gewissen Grad nachzufühlen, was diejenigen fühlen, mit denen wir in Kontakt sind. Deshalb schaudern wir, wenn wir sehen, dass jemand Schmerzen leidet – wir spüren psychisch etwas von ihrem Schmerz. Zeuge des Leidens anderer zu werden kann intensive Gefühle bei uns auslösen, Gefühle, die auszuhalten und mit denen zu arbeiten wir lernen müssen, wenn wir hilfreich sein wollen. Die Gefühle, die hochkommen, wenn wir andere (oder sogar uns selbst) leiden sehen, können sehr schmerzlich sein, aber das ist keine schlechte Sache. Es ist ein wesentlicher Aspekt des Mitgefühls, es ist Teil unserer emotionalen „Grundausstattung“.
Probieren Sie eine kurze Übung aus: Atmen Sie ein paar Mal ein und aus und nehmen Sie bewusst Ihre Gefühle und Gedanken wahr. Sagen Sie nun zu sich: „Hungriges Kind.“ Nehmen Sie alle Gefühle wahr, die bei diesen Worten hochkommen und lassen Sie sie zu. Vielleicht fühlen Sie sich berührt oder traurig – diese Gefühle kamen bei mir hoch, als ich die Worte schrieb. Das ist kein Zufall. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unseren Schmerz miteinander zu teilen, und wir sind mit dem Instrumentarium des Mitgefühls ausgestattet, um darauf zu antworten.1