Es existiert. Johannes Huber
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Etwas in der Art beobachtete auch ein gewisser James Flynn in den 1950ern, die Welt am Sonntag berichtete darüber. In der High School hatte er Basketball gespielt und viele Matches gewonnen. Als er fünf Jahre später gegen eine High-School-Mannschaft antrat, überragten ihn baumlange Jünglinge, gegen die er und seine Kollegen keine Chance mehr hatten. Sie waren nicht nur größer, sondern auch um einiges schneller als er, konnten mit der linken genauso gut werfen wie mit der rechten Hand und hatten auch sonst Tricks drauf, mit denen sie die Älteren austricksten.
Dreißig Jahre später fiel Flynn, mittlerweile Professor für Politikwissenschaften in Neuseeland, auf, dass in einigen Ländern die IQ-Werte stetig anstiegen. Er erinnerte sich an seine Basketballzeit und wurde neugierig. Ebenso, dachte er, müsste es doch mit der Intelligenz sein. Die Kollegenschaft war skeptisch, weil Zwillingsstudien längst ergeben hatten, dass Intelligenz zu siebzig Prozent vererbt wird. Der IQ, müsse also über die Generationen hinweg stabil bleiben. Der Flynn-Effekt galt lange Zeit als statistischer Fehler.
2015 bekam James Flynn dann doch Recht. Es waren Forscher der Universität Wien, die erstmals einen weltweiten Anstieg des IQ im 20. Jahrhundert nachwiesen, und der Unterschied war durchaus nennenswert. Der Gesamt-IQ liegt dreißig Punkte höher als 1909. Die Welt am Sonntag schrieb: Wer es heute auf einen durchschnittlichen IQ von hundert bringt, hätte vor einem Jahrhundert einen IQ von hundertdreißig gehabt und als hochbegabt gegolten.
Das entspricht drei Punkten pro Dekade, wobei der Anstieg nicht immer und in allen Weltregionen gleich war. In Deutschland war der IQ während der beiden Weltkriege gleich geblieben. In der Zwischenkriegszeit und ab 1950 machte er gewaltige Bocksprünge nach oben. Asien startete auf etwas niedrigerem Niveau als Europa, holte dafür aber dramatischer auf. Letztlich, war in dem Artikel zu lesen, wird er überall auf gleichem Level landen.
Es hat also in der Geschichte durchaus solche Entwicklungen der körpermorphen Parameter gegeben. Allerdings nie so rasant. Nie so auffällig. Jetzt scheint sich eine Explosion zu ereignen.
Das wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Allen voran: Wodurch ist diese Akzeleration ausgelöst, die ja kontinuierlich immer da war? Salopp gesagt: Wer oder was gibt da plötzlich so Gas? Und natürlich: Warum?
Was liegt dahinter? Ist da ein Mechanismus am Werk, der mehr kann, als Riesen zu produzieren? Ist dieser Mechanismus möglicherweise dazu geeignet, einen noch größeren Quantensprung zu ermöglichen? Ist es denkbar, dass sich im Zuge dessen das Gehirn vergrößert, die Anzahl der Neurone zunimmt und damit ein anderes Bewusstsein geschaffen wird? Und wenn ja, was lässt uns das noch erwarten?
Es ist durchaus möglich, auf ein paar dieser Fragen schlüssige Antworten zu geben.
Der Mechanismus, der hinter der Wachstumsexplosion liegt, hat etwas mit zwei Worten zu tun, die der Größe der Ereignisse so gar nicht entsprechen. Im Gegenteil, sie sind überhaupt nicht sexy. Die Rede ist von Insulin und Glukose. Die beiden, das Insulin als ein Wachstumsfaktor und die Glukose als Bestandteil der Nahrung, bewirken im Zusammenspiel des menschlichen Organismus mit den äußeren Umständen dennoch Erstaunliches.
Dass und wie sehr dieser Mechanismus in der Lage ist, in die Entwicklung des Menschen einzugreifen, beweist uns schon die Schwangerschaft. Deswegen ist sie für die Evolution so wichtig. Werfen wir einen Blick darauf.
Um das Kind in der Gebärmutter ausreichend zu ernähren, entwickelt die Frau in der Schwangerschaftszeit ein Überangebot an Insulin und ein Überangebot an Glukose, sprich an Zucker.
Man kann sich das so vorstellen:
Die schwangere Frau macht ihre eigenen Zellen für die Kohlenhydrate, für das Insulin zu. Eigentlich genau so, wie es auch Diabetiker machen. Was einiges zur Folge hat. Der Zuckergehalt im Blut steigt an. Die Bauchspeicheldrüse möchte den Zucker aber trotzdem irgendwie in die Zelle transportieren. Um das in diesen großen Mengen zu schaffen, steigt das Insulin an. Unschwer, sich vorzustellen, dass da ordentlich geschuftet wird.
Wozu der ganze Aufwand? Immerhin kann diese erhöhte Produktion, wenn sie pathologisch entgleist, was ja in der Evolution immer möglich ist, zu Schwangerschaftsdiabetes führen. Ist das ganze Tamtam der Mühe wert?
Es ist nicht nur die Mühe wert, es ist sogar lebensnotwendig. Das Risiko muss eingegangen werden, aus gutem Grund. Die hohen Insulinkonzentrationen und vor allem der hohe Zucker der Mutter stehen nun auch dem Baby zur Verfügung, und es beginnt, seine Hirnentwicklung zu beschleunigen. Ein Mechanismus, der wahrscheinlich für die evolutionäre Hirnentwicklung von hoher Bedeutung war.
In der Schwangerschaft ist eine derartige prädiabetogene Stoffwechsellage eine Notwendigkeit. Deswegen akzeptiert die Natur eine Situation wie bei Diabetikern. Sie ist essenziell. Das Kind braucht sie in diesen Phasen zur Entwicklung des Gehirns. Wie gescheit die Natur doch ist.
Was hat jetzt dieser Abstecher in die Schwangerschaft damit zu tun, dass die Menschen immer größer werden? Erhöhten Zucker und erhöhtes Insulin gibt es immerhin seit den Schwangeren der ersten Stunde.
Die Erklärung ist so einfach wie verblüffend: In der modernen Überflussgesellschaft leben wir praktisch wie in einer ewigen Schwangerschaft. Wir sind sozusagen die extrauterinen Embryos im Mutterleib der Überflussgesellschaft und pendeln zwischen einem Energieangebot für unseren Körper, wie das vorher in der Menschheitsgeschichte noch nie der Fall war, und andererseits der Gefahr, an Diabetes zu erkranken, wenn der Konsumbogen überzogen wird.
Unser Nahrungsangebot ist so riesig, dass das, was in der Schwangerschaft phasenweise einen Sinn hat, in der modernen Zivilisation permanent möglich ist. Vermehrtes Insulin und vermehrte Kohlenhydrate sind nicht mehr nur dazu da, um das Gehirn des Kindes zu vergrößern. Sie sind ein Dauerzustand. Zumindest in der westlichen Welt haben wir ständig genug zu essen und können jede Schwangerschaft für ein Mehr konditionieren.
Das ist einer der Gründe, warum die Menschen im 20. Jahrhundert damit begannen, stetig größer zu werden. Sie verändern sich.
Die Sache ist natürlich wesentlich komplexer und außerdem kein einmaliges Ereignis. Es gibt im Leben noch eine zweite Phase, in der die Energieressourcen für die Erhaltung der Art notwendig sind. Nämlich in der Zeit, in der ein Mädchen zur Frau wird.
Das zweite Mal, bei dem ausreichend Energie und Nährstoffe für die Fortpflanzung, die Reproduktion und schließlich das heranwachsende Leben gebraucht werden, beginnt schon lange vor der ersten Schwangerschaft. Sie ist sogar die Voraussetzung dafür. Denn um eine Schwangerschaft austragen zu können, braucht der weibliche Körper 140.000 zusätzliche Kilokalorien. Ohne diesen hochenergetischen Prozess gäbe es praktisch keine Fortpflanzung.
Die Frage ist dabei weniger, wo kommen diese 140.000 Kilokalorien her, sondern wo sollen diese 140.000 Kilokalorien hin. Wo soll der noch kindliche Frauenkörper plötzlich so viel Energie und Nährstoffe unterbringen? Ist ja nicht so, dass sich die Mädchen ein zusätzliches Depot aus der Requisitenkammer der Natur holen oder eine Art tragbare Vorratskammer umgeschnallt bekommen.
Es muss sich etwas innerhalb des Körpers ereignen, und genau das passiert. In der Steinzeit ist eine werdende Mutter auch nicht in die nächste Supermarkthöhle gegangen und hat sich vor den Regalen voll Babynahrung überlegt, ob sie sich heute für Alete oder Milupa entscheiden soll. Mutter Natur hatte selbstständig dafür zu sorgen, dass hier ein Schalter umgelegt wird, sodass das Kind das bekommt, was man heute in jedem Kaufhaus kaufen kann.