Es existiert. Johannes Huber
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Schuld ist die Elektronik, da kann man sagen, was man will. Erdacht mithilfe der menschlichen Neurone hat sie umgekehrt wiederum die Geschwindigkeit der Neuronenarbeit amplifiziert und verstärkt. Irgendwie paradox. Das menschliche Gehirn entwickelt Dinge, für die man ein besseres und schnelleres menschliches Gehirn braucht, um damit umgehen zu können. Der Mensch hetzt sich selber. Tempo ist der Treibstoff der Neuzeit. Gut? Schlecht? Na ja, lassen wir das. Es geht nicht um Wertung, sondern um Erwartung.
Die elektronischen Medien haben die Evolution in unserem Gehirn vorangetrieben. So kritisch also jeder eingestellt sein kann gegen diese Medien, eines ist sicher: Die Elektronik stimuliert die Schnelligkeit der Assoziation und des Gedankens.
Wir gewöhnen uns schleichend an die Geschwindigkeit. Die einen schneller, die anderen langsamer. Den einen fällt es leichter, anderen schwerer. Das zeigt sich an jedem Formular, das wir ausfüllen sollen. Früher hat man das mit der Hand gemacht und bei jeder Rubrik nachdenken können: Was schreibe ich da hin? Was ist damit gemeint? Was wollen die von mir? Formulare auszufüllen, war ja nie eine Lieblingsbeschäftigung des Menschen.
Jetzt sind die Antworten vorgegeben. Jetzt hüpfen wir mit drei oder vier Klicks zu irgendwelchen Auswahlfenstern, um neue Auswahlfenster zu öffnen, nach denen wieder andere Auswahlfenster geöffnet werden müssen. Dadurch wird die Denkgeschwindigkeit angeregt und gefordert. Wer der Reaktionsgeschwindigkeit im Hirn Dampf machen will, spielt Egoshooter oder füllt Formulare aus.
Die elektronischen Medien sind nichts anderes als Übungsfelder für den neuen, heranwachsenden, mit einem besseren Gehirn ausgestatteten Menschen. Indem er sich auf diesen Übungsfeldern tummelt, feuert er die Neurone an, die daraufhin viel schneller, viel besser arbeiten. Das ist wie beim Fußballspielen. Mehr Training, mehr Tore, höhere Liga.
Die permanente Übung des Geistes mit schnellreaktiven Maschinen. Das haben sie gern, die Neurone. Es ist durchaus möglich, dass die Kinder, die jetzt mit all der Elektronik aufwachsen, mit dreißig oder vierzig eine völlig andere Assoziationsfähigkeit mitbringen als die heutigen 30- und 40-Jähringen. Es ist ein weiteres Indiz dafür, dass der neue Mensch mit höherer Intelligenz ausgestattet sein wird.
Wir können derzeit nur Thesen aufstellen. Wir können nur Anzeichen aufzeigen. Wir können nur einen Indizienbeweis führen, wie ein Verteidiger gegen den Staatsanwalt, und die Causa heißt: Der neue Mensch versus die Skeptiker.
Das schlagendste Argument der Skeptiker ist bekannt und kaum zu entkräften. Das Gehirn mag schneller werden, was dabei aber auf der Strecke bleibt, ist das Nachdenken. Das bleibende Wissen. Die Allgemeinbildung. Das Herstellen von Zusammenhängen. Heute brauchen wir uns nichts mehr zu merken, heute brauchen wir nur zu wissen, wo wir nachschauen können. Heute brauchen wir nur zu googeln.
Das Tempo, mit dem unsere Kinder assoziieren, ist rasant. Die Fähigkeit, das Schnelle in Bleibendes zu verwandeln, ist dagegen geradezu dürftig. Ein Nachteil, keine Frage. Allerdings ist dieser Gegensatz auch wieder irrelevant. Er mischt Äpfel, die schneller wachsen als früher, mit Birnen, die weniger Fruchtfleisch haben als vorher.
Wenn wir davon ausgehen, dass ein Neuron in seiner Arbeit trainiert werden kann und dass das Training über die Epigenetik in die nächste Generation weitergegeben werden kann, worauf wir in einem späteren Kapitel noch genau eingehen werden, dann muss man sagen: Die Reaktionsgeschwindigkeit und die Arbeitsleistung einer Nervenzelle wird dadurch natürlich verbessert. Ob sie sich dann positiv oder negativ auf das gesamte Weltbild auswirkt, ist eine andere Frage.
Wir haben es hier mit zwei Faktoren einer somatischen, also einer körperlichen Veränderung zu tun. Durch die Insulinresistenz haben wir einen größeren Muskel, und wir haben gleichzeitig ein Training, das den größeren Muskel noch mehr auf Vordermann bringt. Ob man mit den Muskeln dann wirklich denkstärker, gescheiter wird, ist eine Wahrscheinlichkeit, eine Vermutung, aber mit Sicherheit eine Hoffnung.
Der dritte Pfeiler, der die Transformation zum neuen Menschen trägt, ist das Reisen. Genauer gesagt: die enormen Möglichkeiten, innerhalb eines Tages um die halbe Welt zu fliegen und damit neue sogenannte Place Cells und Time Cells zu produzieren.
Die Natur spiegelt sich im Gehirn. Die Umwelt hinterlässt dort ihren Abdruck. Das heißt, die Umgebung setzt neue Marker im Kopf. Von jedem Ort, an dem ein Mensch ist, macht der Körper sozusagen ein Bild. Ein Foto in Form eines Neurons.
Erstes Mal in Lignano, neues Neuron. Erstes Mal am Meer, neues Neuron. Erstes Mal im Riesenrad, neues Neuron. Erstes Mal in Linz, neues Neuron. Erstes Mal in New York, neues Neuron, neues Neuron, neues Neuron. Manche Leute haben Landkarten daheim hängen und stecken Nadeln an die Orte, an denen sie schon waren. Genau dieselbe Landkarte tragen wir in uns und ständig mit uns herum.
Wenn man möchte, kann man sich das Gehirn als ein unfassbar großes Fotoalbum vorstellen, und dieses Neuronen-Album hat einen unschätzbaren Wert, nicht bloß einen ideellen, wie jedes andere persönliche Fotoalbum. Es hat einen Wert für die menschliche Entwicklung, und sich dafür sogar einen Nobelpreis verdient. Der Nobelpreis 2014 ging an die Entdecker der sogenannten Place Cells.
Eine Hälfte der Auszeichnung hat sich der amerikanische Neurowissenschaftler John O‹Keefe schon seit 1971 erarbeitet. Damals hat er einen ersten Teil des inneren Navigationssystems von Mensch und Tier beschrieben, die sogenannten Platz-Zellen.
Die zweite Hälfte der weltweit höchsten wissenschaftlichen Anerkennung des Jahres 2014 bekam das norwegische Hirnforscherpaar May-Britt und Edvard Moser, das in Trondheim arbeitet. Bei Versuchen mit Ratten entdeckten sie 2005 die sogenannten Koordinaten-Zellen, die eine Art Positionierungssystem im Gehirn bilden und die räumliche Orientierung und das Finden eines Weges erleichtern.
Place Cells sind also so etwas wie ein von der Natur eingebautes Navi im Gehirn.
Den richtigen Weg zu finden, ist eine feine Sache. Bei den Place Cells geht es aber um viel mehr. Um viel, viel mehr. Durch sie ist überhaupt erst ein menschliches Bewusstsein entstanden. Ohne die Place Cells hätten wir gar kein Gehirn.
Um es einmal im Schnelldurchlauf zu erklären:
Pflanzen haben Nervenzellen und können damit auf die Umwelt reagieren, aber sie haben kein Gehirn. Ein Gehirn bildet sich erst mit gezielter Standortveränderung. In dem Moment also, wo Lebewesen in einer Art Zwischenstadium zum Tier anfangen, sich vom Fleck zu bewegen, bekommen sie nicht nur Nerven, sondern auch Nervenbündel, die aggregieren, woraus schließlich ein Gehirn wird.
Das heißt: Das Gehirn ist durch die Ortsveränderung entstanden, weil für jeden Ort ein neues Neuron angelegt wird.
Das Lebewesen, an dem man die Place Cells entdeckt hat, ist die Seescheide. Ein Mittelding aus Pflanze und Tier. Genau das macht sie so interessant. Noch dazu entwickeln sich die Seescheiden in unseren Augen eigentlich zurück. Sie mausern sich nicht von der Pflanze zum Tier. Im Gegenteil: In ihrem embryonalen Stadium sind sie Tiere, als Erwachsene werden sie dann zu Pflanzen.
Die Biographie so einer Seescheide ist rasch erzählt. Als Embryonen schwimmen sie herum und wachsen sich aus. Durch das Herumschwirren bilden sich in ihrem winzigen Nervensystem Place Cells, und die vermehren sich. Je mehr die Junior-Seescheiden herumschwimmen, desto mehr Place Cells produzieren sie, und das geht munter