Die Anatomie des Schicksals. Johannes Huber
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Willkommen unter uns, im Übrigen.
Leben ist Veränderung und Veränderung ist Schicksal.
Weiterentwicklung verändert den Lauf der Dinge. Wissenschaft ist Evolution, und Evolution gibt dem Schicksal einen anderen Drall mit etwas mehr Effekt. Die Pest ist besiegt. Die Wissenschaft hat das Ringen mit diesem Tod gewonnen.
Ebenso wie mit dem Tod durch das Kindbettfieber. Auch hier war es früher die Unwissenheit, die zur Schicksalsfrage für unzählige Frauen wurde. Wo werde ich entbinden? Ja, das war in Wien einmal die alles entscheidende Frage, so einfach konnte es sich das Schicksal machen.
Denn es gab nur zwei Möglichkeiten: die erste oder die zweite Frauenklinik. Die Antwort entschied über Leben und Sterben. Wenn Frauen auf der ersten Frauenklinik entbanden, war ihr Risiko groß, dem Kindbettfieber zu verfallen. Der Tod kam auf diese Weise damals schicksalhaft. Wenn sie ihr Kind auf der zweiten Frauenklinik bekamen, dort, wo es keine Studenten gab, die vor ihrer Assistenz bei einer Geburt Leichen seziert hatten, dann waren sie gerettet.
Auch dieses Schicksal ist heute von der Wissenschaft eliminiert. Früher war es tragisch und praktisch unbeeinflussbar. Denn in welche Klinik eine Frau kam, entschied bloß das Datum. An geraden Tagen kamen die Schwangeren in die zweite und an ungeraden in die erste Klinik. Manche Frauen unternahmen selbst in den schlimmsten Wehen noch alles, um die Geburt den einen, lebenswichtigen Tag hinauszuzögern. Nummer zwei war Nummer sicher, damit zogen sie das Los des Lebens. Nummer eins war der Weg in den Tod. Wer in der ersten Klinik landete, betete, dass das Ende, wenn schon, dann schnell kommen möge.
Heute hat das Kindbettfieber seinen Schrecken verloren. Die Medizin kann es heilen, sofort, mit einem einzigen Antibiotikum. Das heißt: Die moderne Medizin hat dabei nicht nur diese alte Schicksalhaftigkeit abgemildert, sondern auch den Glauben an die mörderische Willkür höherer Mächte, der sich darum rankte, ausradiert.
Pest. Kindbettfieber. Oder die Folgen von Jagdunfällen. Ein Schuss, der tödlich endete, selbst wenn einen das Schicksal dabei nur streifte. Es gab damals keine Antibiotika. Schon wieder ist es so einfach. Erstaunlich viele Herrscher unserer Geschichte gingen auf diese Art zugrunde. Hätte man ihnen Penicillin geben können, wären sie alle gerettet worden.
Oder nehmen wir den Habsburger Kaiser Karl V. Schwer deformiert in seinen Gelenken ergab er sich der Gicht, humpelte in den Escorial und erwartete dort den Tod, weil er sich praktisch nicht mehr bewegen konnte.
Heute wäre ihm das nicht passiert. Überhaupt kein Problem, das Leiden lässt sich relativ leicht verhindern, indem man den Patienten ein Anti-Harnstoff-Produkt gibt. Karl V. hätte wieder fingerschnippend heimlaufen können.
Oder: Blutdruck. Das war früher etwas, was man nicht zuordnen konnte. Es schien, als wäre man tatsächlich vom Schlag getroffen worden. Schlaganfall und tot. Gehirnschlag. Sense. Die Häufigkeit dieses Schicksalsschlages im buchstäblichen Sinn hat man heute mehr oder weniger deutlich verringert. Ein eleganter Blutdrucksenker in der Früh, und fertig ist der moderne Mensch. Er muss sich weniger Sorgen machen, dass ihn der Blitz streift. Hypertonie ist bezwingbar.
Und was man früher nicht alles unter dem Begriff Besessenheit zusammengetragen und in den Narrenturm gesperrt hat. Es ging bis hin zum teuflischen, dämonenhaften Besessen-Sein, das Exorzisten auf den Plan rief. Im Prinzip waren das nichts anderes als Neurotransmitterstörungen im Gehirn. Ein einziges Dragee heute, und der Wahn verliert seinen Sinn, der Dämon ist obdachlos.
Die Liste dieser Wenn-Danns ist lang. Wie viele Menschen sind als Andersdenkende verbrannt worden, wie viele Frauen warf man als Hexen auf den Scheiterhaufen. Oder Diabetes. Wie erfolgreich, wie friedlich hätte ein Mann wie Herodes der Große weiter regieren können, wäre Diabetes zu seiner Zeit nicht noch schicksalhaft gewesen? Welche wunderbaren Gemälde hätte uns der zuckerkranke Paul Cézanne noch hinterlassen, den der farblose Sensenmann viel zu früh holte?
Doch so viel bleibt schicksalhaft, scheint gottgegeben, vom Zufall bestimmt oder den Genen geschuldet zu sein. Das Schicksal, es durchzieht unser aller Leben noch immer als scheinbar unverfügbare Gewalt. Man möchte fast meinen, es habe eine eigene DNA. Doch jetzt macht sich der Mensch daran, dieses größte aller Rätsel zu lösen. Die Anatomie des Schicksals.
Jeder Eingriff, jeder Zugriff auf das Schicksal, so viel ist klar, hat Konsequenzen. Gute, schlechte, wer weiß das schon immer so genau. Es ist, als würde man an Rubiks Würfel drehen oder eine Schachpartie beginnen oder gegen einen japanischen Go-Meister spielen. Jeder Zug bedingt etwas. Jeder Zug ist wichtig. Jeder Zug entscheidet, was acht Züge später geschieht, und damit entscheidet er irgendwann das ganze Spiel.
Kraft zur Veränderung
Ob abwendbar oder nicht. Es gab immer wieder Denkrichtungen und Bestrebungen, die eine Vermutung äußerten: Vielleicht kann man ja doch etwas machen. Das ist eine jahrtausendalte Geschichte im Weisheitsschatz der Menschheit. Der Zweifel am Determinismus und der Glaube an die aktive Veränderung.
Die Antike konzentrierte sich dabei auf Schicksalsschläge des Einzelnen.
Ich. Kann. Etwas. Tun.
Oder eben nicht.
Die Oder-eben-nicht-Variante können wir bei Ödipus und Odysseus nachlesen, die ein schicksalhaftes Fatum vorhergesagt bekamen. Die Weissagung der Sphinx für Ödipus war: »Du wirst deinen Vater ermorden und deine Mutter heiraten.« Und tatsächlich, was immer er tat, da fuhr die Eisenbahn drüber, es kam genau wie vorhergesagt.
Im Detail, wen’s interessiert, geht die Geschichte so: Laios, König von Theben, ist im Streit mit König Pelops. Das Orakel von Delphi weissagt ihm: »Wenn du einen Sohn zeugst, wird er dich töten und deine Frau heiraten.« Laios’ Frau Iokaste willigt ein, den Neugeborenen zu töten. Und das nicht gerade gnadenvoll: Füße durchstechen, zusammenbinden, und von einem Hirten im Gebirge aussetzen lassen. Der Hirte aber hat Mitleid. Er übergibt den Knaben dem Königspaar Polybos und Merope von Korinth. Sie nennen ihn Ödipus, was so viel wie Schwellfuß bedeutet.
Ödipus wächst auf, ohne seine Herkunft zu kennen. Als er erfährt, nicht der leibliche Sohn seiner Eltern zu sein, wendet er sich an das Orakel von Delphi. Das weiß ja bekanntlich alles.
Er erfährt: »Du wirst deinen Vater töten und deine Mutter zur Frau nehmen.« Ödipus schüttelt den Kopf, Orakel sind manchmal so penetrant melodramatisch, denkt er, schauen wir einmal. Er bricht auf nach Theben, um das Vorausgesagte zu verhindern. Auf dem Weg gerät er in Streit mit dem Fahrer eines Wagens, der ihn seiner Ansicht nach zu arrogant behandelt. Er erschlägt ihn und damit seinen leiblichen Vater. Erster Teil der Prophezeiung erfüllt.
Vor Theben überwindet Ödipus eine Sphinx, die vorzugsweise Reisende verschlingt. Er löst ein Rätsel, das sie ihm aufgibt, woraufhin sich die Sphinx vom Felsen stürzt. Da Theben nun von dieser Plage befreit und der alte König tot ist, wird Ödipus zur Belohnung zum neuen König ernannt. Und er heiratet seine Mutter. Zweiter Teil erfüllt. Weder sie noch er wissen von ihrem Verwandtschaftsverhältnis.
Die Tragödie reflektiert das Unvermögen des Menschen, sein Schicksal voraussehen