Die Anatomie des Schicksals. Johannes Huber

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Die Anatomie des Schicksals - Johannes Huber

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Wer sein Zeitschicksal erkennt, kann den Timer modulieren. Wie bei einem Marathon muss er wissen, wann man schneller läuft und wann langsamer. Einteilen heißt eingreifen. Wer nicht eingreift, wird umgeworfen, ganz einfach.

      Und dennoch hat der Mensch immer wieder guten Grund, das Rad des Zeitschicksals schneller zu drehen, und noch schneller. Die Medizin bestätigt das Jahr um Jahr, Monat um Monat und fast schon Woche um Woche aufs Neue. Was ist, wenn ein Genabschnitt schicksalhaft für eine Erkrankung verantwortlich ist, für eine genetische Erkrankung, sagen wir, für den genetisch bedingten Brustkrebs?

      Die Antwort lautet: Die Medizin hat in Zukunft Scheren für die Hardware und Software der Biologie, für das Genom und das Epigenom. Damit schneidet man mehr oder weniger das betreffende Stück Gen heraus, und eine auch schicksalhafte genetische Erkrankung, eine genetische Anfälligkeit für Brustkrebs, Eierstockkrebs und vieles andere, wird von ihrer Schicksalhaftigkeit befreit. Das ist eine Befreiung der Menschheit, nach Pest und Kindbettfieber, von einer weiteren Geißel.

      Auf diese Weise stellt sich der Schicksalsbegriff bis zu einem gewissen Grad neu dar. Der schicksalhafte krankheitsbedingte Tod wird allmählich zur Vergangenheit und es entstehen andere Fragen. Es ist ein ewiger Kreislauf.

      Wir verstehen: Das Kolorit des Schicksals verschiebt sich, sein Farbwert changiert, verändert sich. Und der Mensch kann es schaffen, wie in der Medizin, es zu seinen Gunsten zu wandeln, etwas Positives daraus zu machen. Das ist das Wunder des wandelbaren Schicksals. Es ist menschenmöglich.

      Wenn sich das Schicksal vorbereiten kann, dann können wir das auch. Im Gegensatz zur Venus vor 750 Millionen Jahren.

      Wir können uns wappnen.

      Es sind nicht die Gene

      Schicksal ist kein Synonym für Erkrankung oder Katastrophe, für Desaster oder Tod. Es muss sich nicht unbedingt um etwas Furchtbares handeln, damit es Schicksal genannt werden kann. Auch wenn wir uns das im Sprachgebrauch so angewöhnt haben, Schicksal ist nicht per se negativ. Es haftet ihm nicht a priori etwas an, womit man im Leben nichts zu tun haben will.

      Das Schicksal kann uns auch auf der Sonnenseite des Lebens einquartieren. Wir sehen zum Beispiel in Familien, wie ähnliche Schicksale in Form von ähnlichen Begabungen weitergegeben werden. Da sind Musikerfamilien beispielhaft, wir kommen später im Kapitel »Der Strauss-Faktor« dazu. So viel vorweg: Es zeigt, dass da irgendetwas gewesen sein muss, irgendetwas, das diese musikalische Begabung gefördert hat.

      Früher hätte man gesagt: Es sind die Gene.

      Heute weiß man: Gene spielen eher eine untergeordnete Rolle. Doch was nun erkennt die Biologie als neue schicksalhafte Kräfte?

      Als Bill Clinton im Juni 2000 die Entschlüsselung des menschlichen Genoms verkündete, vermutete man, die Schicksalhaftigkeit der Gene entdeckt zu haben. Allerdings merkte man bald, dass es hinter dem genetischen Code noch einen anderen gibt, nämlich den epigenetischen. Er bestimmt sozusagen darüber, welche Gene unser Organismus wie stark benutzt. Er kann Gene zum Beispiel stilllegen oder aktivieren und damit über unsere Gesundheit, unser Glück und damit unser Schicksal mitbestimmen.

      Der epigenetische Code hat mit elektrischen Ladungen zu tun und entfaltet weitreichende Wirkungen, die seit seiner Entdeckung Forscher und das interessierte Publikum gleichermaßen faszinieren, und die ich bereits in meinem Buch Der holistische Mensch – Wir sind mehr als die Summe unserer Organe beschrieben habe.

      Ein Beispiel: Wenn Weinbauern Pestizide verwenden, schädigen sie damit ihre eigenen Keimzellen. Bekommen sie Kinder, geben sie diese Schädigungen an sie weiter. Das heißt, dass ihre Kinder Pestizid-Schäden haben, selbst dann, wenn sie keine einzige Stunde im Weingarten verbringen. Selbst dann, wenn die Weinbauern ihre Kinder unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigeben.

      Der genetische Code steht somit für ein unabänderliches Schicksal, der epigenetische aber für ein veränderbares, negativ wie auch positiv, denn klarerweise lassen sich auch positive epigenetische Prägungen vererben. Was bedeutet: Ein gutes Leben schlägt Wellen in den uns nachfolgenden Generationen, ein schlechtes tut es ebenfalls. Wir beeinflussen diesen epigenetischen Code zum Beispiel durch unsere Ernährung, durch Krankheiten und durch unseren Lebensstil.

      Eine Weile galt die Epigenetik sogar als die große und einzige Komponente im Bereich der biologischen Übertragung von organischen und auch psychischen beziehungsweise seelischen Faktoren von einer Generation auf die nächste. Doch dann entdeckte die evolutionäre Entwicklungsbilologie die stille, schicksalhafte Macht der dunklen DNA und der microRNA.

      Was bedeutet der Begriff »dunkle DNA«, der klingt, als würde er uns in ein geheimnisvolles Reich entführen – und das zu Recht?

      Um ihn zu verstehen, müssen wir wissen: Nur ein ganz kleiner Teil unserer DNA ist für die Proteine verantwortlich, aus denen wir bestehen. Es gibt auch in der DNA so etwas wie im Weltall, nämlich dunkle Materie. Nur ein kleiner Teil des Universums ist greifbare Materie. Die dunkle Materie, die wir nicht sehen, die aber extreme Bedeutung hat, ist in der Überzahl.

      In der DNA besteht die dunkle Materie aus langen Sequenzen, von denen lange niemand wusste, wieso sie eigentlich da sind. Aus denen nichts abgelesen zu werden schien, kein Protein. Und die dennoch mehr als neunzig Prozent der Gesamt-DNA bilden. Nur ein kleiner Teil unseres Erbfadens wird transkribiert, der große Teil schien nichts wert zu sein, Junk-DNA eben.

      Mittlerweile hat die Wissenschaft belegt, dass dem nicht so ist.

      Wenn nötig, greift der Körper, wie von magischer Hand, auf diese nicht abgelesenen Junk-DNA-Stücke zurück und macht aus ihnen RNA-Stücke. Plötzlich sind die Nichtsnutze etwas wert. Auf einmal haben sie eine Funktion, eine, die vorher gar nicht da war. Mit einem Mal ist da eine neue Möglichkeit des Überlebens.

      Ein Beispiel aus der Biologie: Durch die Erderwärmung ändert sich die Fruchtbechergeometrie bei Pflanzen. Genau dort, wo der Nektar enthalten ist. Die Distanz zur Pflanzenoberfläche wird größer und der Fruchtbecher verändert sich, schließt sich praktisch, um den Nektar besser vor der Wärme zu schützen. Mit der Zeit orientieren sich die Insekten daran und passen sich an. Sie bekommen längere Rüssel. Dafür ist wahrscheinlich die Junk-DNA mitverantwortlich. Ihr Organismus holt aus ihrer nicht abgelesenen DNA plötzlich etwas wie aus einem Zauberhut hervor und daraus entsteht etwas Neues.

      Ein anderes Phänomen, das wundersam erscheint, aber gar nicht wundersam ist: In der Natur gibt es Bakterien, die Glucose nicht abbauen können. Wenn man diese Bakterien allerdings über lange Zeit in glucosereiches Material gibt, dann tun sie, was sie nie konnten, nämlich Glucose abbauen. Sie greifen auf ein schwarzes Energieloch in ihrer DNA zurück.

      Das alles ist Anpassung, das ist Evolution.

      Ein Beispiel, das sich so in der Geschichte der Menschheit abgespielt haben oder theoretisch noch abspielen könnte: Eine Hungersnot bricht aus. Wir, die Menschheit oder zumindest ein Teil davon, können uns plötzlich nicht mehr ernähren. Nun liest unser Körper die dunkle Gen-Materie ab und wird dort fündig: Er bringt ein Enzym hervor, mit dessen Hilfe wir Dinge verdauen können, die wir bisher nicht verdauen konnten.

      Die dunkle Gen-Materie hat in der Menschheitsgeschichte zweifellos schon die wertvollsten Dienste geleistet. Wer weiß, was sich dort noch alles an Bauplänen befindet. Sie ist ein Schatz an allem, das Menschen schon einmal waren und das sie noch werden können. Und selbst, wenn wir uns noch nicht einmal die Frage stellen, wie all diese stille Information in die DNA gelangt ist, wer sie dort hineingeschrieben hat, bildet sie eine geheimnisvolle Welt voller

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