Die Anatomie des Schicksals. Johannes Huber

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Die Anatomie des Schicksals - Johannes Huber

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ist.

      Einen völlig neuen Aspekt brachte eine Erkenntnis über die Viren in unserem Genom. Sie sind die längste Zeit ruhiggestellt, aber wenn es der Teufel will, und unser Körper etwas braucht, was nur die Virus-DNA hervorbringen kann, dann schaltet er dieses Fremd-DNA-Gut ein. Und dieses Virus-Genom bildet dann plötzlich ein Virus-Protein, weil es dem Körper hilft, sich an eine bestimmte Situation anzupassen. Wobei das Ganze für uns auch schiefgehen kann. Virus-DNA kann auch Krebs erzeugen, wenn sie ohne Erlaubnis abgelesen wird. Früher sagte man: Das ist zufällig, das ist schicksalhaft. Mitnichten. Da sind einfach Kräfte am Werk, die wir bisher nicht kannten.

      Womit wir beim dritten Punkt sind, der microRNA. Bei diesen winzig kleinen RNA-Stücken, die der Körper nicht hervorbringt, um ein Protein zu bilden, sondern um regulativ in die Gene einzugreifen. Es geht um Anpassungskontrolle. MicroRNA, das sind sozusagen die kleinen Männchen, die die Evolution steuern und die das Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie als »mächtige Winzlinge« bezeichnet.

      Mächtig sind sie deshalb, weil sie darüber mitbestimmen, welche unserer Gene zum Einsatz kommen. Sie können Gene aktivieren oder stilllegen. Stilllegen zum Beispiel kann gut sein, wenn sie dabei ein Gen nehmen, das uns für eine bestimmte Krankheit prädestiniert, und es kann schlecht sein, wenn es eins ist, das uns besondere Leistungen, körperliche oder auch musische oder mathematische, ermöglichen würde.

      Nehmen wir das Laufen.

      Wenn wir laufen, glaubt unser Körper aufgrund urzeitlicher Prägungen, dass wir auf der Flucht sind. Deshalb stellt er mithilfe der microRNA neue Vernetzungen im Gehirn her. Wozu? Weil auf der Flucht zu sein für unseren Körper bedeutet, bedroht zu sein. Von jemandem verfolgt und möglicherweise angegriffen zu werden. Weshalb er Maßnahmen ergreift, um unsere Aufmerksamkeit zu schärfen, besser gesagt: um unsere neurologischen Möglichkeiten, aufmerksam zu sein und Angreifer frühzeitig zu bemerken, zu verbessern. So ganz nebenbei sind diese Vernetzungen auch eine wunderbare Prävention gegen Alzheimer. Daran sind die Steinzeitmenschen zwar noch nicht erkrankt, weil sie dafür nicht alt genug wurden, aber es funktioniert trotzdem.

      Die Forschung hat das Wirken der microRNA inzwischen weitgehend entschlüsselt. Sie regelt die Aktivität einer Vielzahl von Genen gleichzeitig. Beim Menschen scheinen mehr als sechzig Prozent aller Gene durch microRNAs beeinflusst zu werden. Rund siebzig Prozent der bekannten microRNAs befinden sich im Gehirn. Sie steuern dort wie im Beispiel mit dem Laufen die Aktivität vieler wichtiger Gene, und sie beeinflussen unter anderem die Struktur, Funktion und Verknüpfung von Nervenzellen. Sie haben auf diese Weise auch enorme Auswirkungen auf unser Verhalten und unsere Intelligenz, auf unser Bewusstsein.

      Auch unser Befinden beeinflussen sie und bieten so Schutz vor Depressionen. Wissenschaftler des Max-Planck-Weizmann-Labors für experimentelle Neuropsychiatrie und Verhaltensneurogenetik haben die Aufgabe von microRNAs in Nervenzellen untersucht, die Serotonin produzieren – also jenen Botenstoff, der Appetit, Schmerzempfinden oder Gefühlsregungen beeinflusst und der gemeinhin als Glückshormon gilt. Die Forscher haben dabei eine spezielle microRNA identifiziert, die im Gehirn und im Blut von depressiven Patienten im Vergleich zu Kontrollprobanden in geringeren Mengen vorkommt.

      Die mächtigen, schicksalhaft wirkenden Winzlinge microRNA, auch das hat die Forschung herausgefunden, sind davon abhängig, in welchem Zustand wir sie von unseren Eltern übernommen haben, aber auch davon, was um uns selbst herum geschieht, welchen Umweltfaktoren wir ausgesetzt sind, was wir eben so erleben. Schicksal, das wir selbst in der Hand haben, ähnlich wie die schicksalhaften epigenetischen Prägungen. Was wir denken, was wir fühlen und was wir tun, das zeigt auch die evolutionäre Entwicklungsbiologie anhand der microRNA, das geht weit, sehr weit, generationenweit über die unmittelbar sichtbaren Effekte davon hinaus.

      Die Übertragung der microRNA durch unsere Vorfahren auf uns kann dabei ebenso Fluch wie Segen sein, je nachdem, wie sehr diese Vorfahren im Einklang mit ihrer Umwelt, mit ihrer ganzen Umgebung und mit sich selbst gelebt und damit ihre microRNA geformt haben. Wir profitieren von dem, was sie gut gemacht haben, und es spukt durch unser Leben, was sie schlecht gemacht haben.

      Doch auch hier bleibt das Schicksal wandelbar. Wir können es durch unseren eigenen Lebensstil korrigieren. Und gleichzeitig erhalten Lebensregeln, wie sie uns etwa die Heilige Schrift mitgibt, eine ganz neue, biologische, holistische Bedeutung. Sie in ihrem ursprünglichen Sinn zu befolgen, so könnte man das sehen, bedeutet, die Biologie des Lebens und damit die Anatomie des Schicksals von nicht weniger als der Menschheit an sich positiv zu beeinflussen.

      Da ist übrigens noch etwas, was man erst seit Kurzem weiß: Die DNA, der Erbfaden, hat eine extrem gute Leitfähigkeit. Eine bessere Leitfähigkeit als der Draht für den Strom. Das heißt, es könnte drinnen, im Haus der Gene, Strom fließen. Lebensenergie. Was das bedeutet, muss erst erhellt werden. Ein weites Feld an Interpretationsmöglichkeiten eröffnet sich uns da.

      Ein interessanter Bogen, der sich neuerdings über das Schicksal spannen lässt. Und da ist noch mehr.

      Wir werden in den folgenden Kapiteln auch noch sehen, wie sehr das Immunsystem mit dem Gehirn kommuniziert und für Dinge sorgt, die wir in Unkenntnis als schicksalhaft bestimmt, abgehakt und hingenommen haben. Heute wird das durch die neu erkannten Mechanismen verständlicher.

      Vorweg ein Beispiel, das zunächst ganz banal klingt: Menschen, die sich öfter im Wald aufhalten und sozusagen gute Luft atmen, sind psychisch ausgeglichener.

      Ach, werden Sie sagen, wirklich? Wissenschaftlich gesehen ist Erfahrung gut, aber noch kein Grund, Dinge als bewiesen anzusehen. Ganz genau weiß man nämlich nicht, warum Bäume so gut für uns sind.

      Die Forschung hat dazu Daten von 45.000 Stadtbewohnern ausgewertet: Angaben zur Wohnungssituation, zur Nähe von Grünanlagen und zu psychischen Erkrankungen. Ergebnis: Am besten wirkten sich Bäume auf das seelische Wohlbefinden aus. In Nachbarschaften von Stadtwäldern ist das Risiko von Erwachsenen, unter psychischen Problemen zu leiden, um fast ein Drittel geringer als in Gegenden mit weniger Bäumen. Auch der allgemeine Gesundheitszustand ist in der Nähe von Bäumen besser. Wiesen oder andere Grünflächen aus Büschen und Sträuchern haben diese Wirkung laut der Studie dagegen nicht.

      Warum sich Bäume so positiv auswirken, ist, wie gesagt, nicht ganz klar. Ein einfacher Teil der Antwort ist sicher der Schatten, den sie spenden. Schon etwas spekulativer ist die größere Biodiversität von Bäumen im Vergleich zu Wiesen. Ein Forscherteam aus Dänemark hat jedenfalls herausgefunden, dass Kinder, die mit Natur aufwachsen, als Erwachsene zu 55 Prozent seltener psychisch erkranken als Gleichaltrige, die ohne Grün lebten.

      Es muss also etwas in der Luft sein, das uns zufrieden macht oder unruhig werden lässt. Dabei könnte das Immunsystem seine Wirkung entfalten. Es registriert die Ruhe auf dem Land und die Hektik in der Stadt und gibt das an das Gehirn weiter. Das Immunsystem steht in ständigem Dialog mit der Außenwelt und auch mit dem Gehirn. Alles, was passiert, hat Auswirkungen. Gute, schlechte, wie auch immer. Unsere Umwelt bestimmt so, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, was wir tun, wie wir denken. Wie wir sind.

      Das Schicksal liegt also auch in der Umwelt, die wir unsererseits beeinflussen. Im Umfeld, in dem wir uns bewegen. Es liegt in dem, was wir sehen, hören, riechen, schmecken oder ertasten. Das Immunsystem wacht über unsere Begegnungen, auch mit der Umwelt, und bietet uns nicht nur Schutz, sondern verändert Emotionen und Denkmuster im Gehirn.

      Das Schicksal ist sinnlich.

      Wir machen es selbst.

      Diese Erkenntnisse könnten wunderschön sein, schon weil sie naturwissenschaftlich belegen, dass Gutes im Sinne etwa von Respekt vor der Umwelt Gutes bewirkt. Sie sind aber auch besorgniserregend angesichts der Respektlosigkeit, mit der wir die Natur behandeln. Denn in diesem holistischen

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