Die Anatomie des Schicksals. Johannes Huber
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Die Moderne nimmt nun das Schicksal mehr und mehr in die eigene Hand. Um beim Beispiel Krankheiten zu bleiben, bei denen der Mensch früher dem Tod geweiht war – sie folgen heute einer simplen Gleichung: Diagnose plus Therapie ist gleich Heilung.
Der Fortschritt nimmt dem Schicksal das Geheimnisvolle. Jede Entdeckung, jede Erfindung lüftet vor allem in der Medizin den Vorhang der Unkenntnis und nimmt die Angst vor kosmisch gesteuerter Unbill. Was die Moderne allerdings nicht in den Griff bekommt, sind die sich anbahnenden Schicksalsschläge, die von der Umwelt ausgehen.
Unser größter Schatz in dieser Hinsicht ist der Sozialstaat. Er ist eine Art kollektive Versicherung gegenüber allem Versicherbarem, mit dem das Schicksal die Gesellschaft und ihre Individuen behelligen kann.
Der Sozialstaat hat eigentlich nicht unbedingt mit »roter« Politik zu tun, vielmehr lebt er nach einem größeren Sinn und höheren Zielen. Gerechtigkeit. Sicherheit. Gemeinsamkeit. Vor allem aber lebt er auch von jenem Wohlstand, der mitunter die Umwelt belastet. Er lebt von den Steuern der Ökonomie und letztlich von einigen Paradoxien, die der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk so formuliert: »Es werden in den Menschenkörpern der wohlhabenden Hemisphären ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme und Diäten abzubauen sind. Es werden weltweit mehr Abfälle aus Konsum, Freizeit, Reisen und gesellschaftlichen Lebensformen generiert, als sich in absehbarer Zeit im Recycling-Prozess resorbieren lassen. Es werden im Gang der Liberalisierung mehr Hemmungen fallen gelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltung und neue Fairnessregeln domestiziert werden könnten.«
Krankheit, Umweltverschmutzung und hemmungsloser Egoismus also. Der Sozialstaat lebt somit auch von Gedanken, denen Gier zugrunde liegt, und Gedanken werden zu Schicksal. Es ist die gedankliche Gier, die die Welt schicksalhaft in den Abgrund stürzt, autofrei und klassenlos wird da nichts ändern. Wir müssen die Gedanken ändern, um aus dieser Falle zu entkommen, den Sozialstaat auf ein neues Fundament stellen. Sonst bringt uns unsere Versicherung vor schweren Schicksalsschlägen ebensolche.
Zudem bleibt da immer ein Aspekt des Schicksals, gegen den wir uns mit nichts versichern können: die schicksalhafte Veränderung der Zeit.
Den höheren Rhythmus der Geschichte, die Neuformierung der Welt kann niemand aufhalten. Alles geht in diesem Zyklus seinen logischen, vorhergesehenen Gang. Wie beim Kreislauf von Werden und Vergehen. »Ob einer Persönlichkeit Raum gelassen wird, entscheidet allein das Zeitalter, in das sie geboren wird. Man kann zu früh, aber auch zu spät zur Welt kommen. Die Epoche, in die wir hineingeworfen sind, hämmert und meißelt uns«, formulierte der Wiener Jurist und Autor Tassilo Wallentin einmal.
Vor vierzig Jahren wäre Donald Trump nicht US-Präsident geworden, heißt das zum Beispiel. In zwanzig Jahren würde Angela Merkel nicht mehr frohgemut in die Hände klatschen und versprechen: »Wir schaffen das!« Die Beatles würden heute keine Castingshow gewinnen.
Das Schicksal der Geschlechter
Das nächste Zeitalter wird wieder andere Schicksale formen, und es drängt bereits vor. Es richtet sich auf eine quasi neue planetarische Ordnung aus. Die Klassifizierung Mann und Frau soll in einer neuen bizarren Weltordnung nicht mehr gelten. Hochgepriesen wird der globale Uniformismus. Alles will gleich sein. Es kommt zur Angleichung der Geschlechter. Zur Veränderung von Reproduktion und Fortpflanzung. Zur Forderung einer künstlichen Gebärmutter, um den Unterschied zwischen Mann und Frau auszulöschen. Zur Einebnung von Ethnien und Hierarchien. Zu einer schulischen Freigabe der beliebigen und nachhaltlosen Sexualität – jeder möge penetrieren, wen er, sie oder es will.
Es kommt zu einer Veränderung der Werte. Zu einer neuen Spiritualität. Zu einem elektronischen Exhibitionismus, jeder will sich der digitalen Welt zeigen. Zu einem überbordenden Narzissmus, einer Folge der frühkindlichen Anbetung und falsch verstandener Kindesliebe. Pädagogischen Widerspruch gibt es nicht mehr, Gewissenserforschungen werden abgeschafft, jedes Kind ist das beste und braucht keine Korrektur. Das arretiert sich, das bleibt bis zum Lebensende erhalten.
Helikoptereltern meinen, ihrem Kind die allerbeste Entwicklung auf der ganzen Welt angedeihen zu lassen, indem sie ihm jede nur erdenkliche Aufmerksamkeit sehenken, die eine Umlegung ihrer eigenen Selbstverliebtheit auf das Kind ist. Sie schütten es mit zu viel Aufmerksamkeit zu und verhindern so paradoxerweise dessen eigene Entwicklung und das soziale Abschleifen mit anderen. Das Kind hat gar keine Chance mehr, sich anders zu entfalten, als die Eltern das bis ins allerletzte Detail gewollt, geplant und gecheckt haben. Kontrolle ist alles.
Im Erwachsenenalter führt das zu ungebremstem Narzissmus. Das Kind, dann die Frau oder der Mann liebt sich so sehr und genau diese Egomanie wird dann wieder an die nächste Generation weitergegeben. Liebe zum Beispiel ist dann in diesem neuen Zeitalter … ich.
Der Mensch steht so mitten im Sog einer gewaltigen schicksalhaften Veränderung. Epigenetik und vor allem evolutionäre Entwicklungsbiologie stellen in diesem dynamischen kosmischen Biotop lang gesuchte Zusammenhänge zwischen Erbgut und Gestalt her, zwischen Genotyp und Phänotyp.
Sie erforschen Makro- und Mikroevolution, Großes wie Kleines, sie knacken ganz neue Codes. Sie zeigen, wie uns alle das Leben unserer Vorfahren, auch solcher, die wir gar nicht kannten, beeinflusst. Wie Umweltfaktoren unser Schicksal verändern und wir diesen Drall an unsere Kinder weitergeben. So zeigen sie letztendlich, dass nicht nur Zeitschicksal zum persönlichen Schicksal werden kann, sondern auch persönliches Schicksal zu Zeitschicksal.
Wir könnten uns wie Platon bei den Göttern bedanken, als Mensch, als Europäer und als Bürger unseres Landes geboren worden zu sein. Allerdings müssen wir nicht nur schicksalhaft dankbar sein. Wir können ja alles mitformen.
Den Grundgedanken des Philosophen Martin Heidegger vom schicksalhaften Geworfensein in das Leben konterkariert der neue Mensch, indem er nicht nur das physische und psychische Leben formen kann. Er formt auch die Zeit, in der er lebt, er dreht das Rad des Schicksals selbst, und das nicht nur zu seinem Vorteil. Der deutsche Philosoph und Anthropologe Max Scheler bezeichnete den Menschen als den großen Verschwörer, der täglich die uralte Verfassung der Natur aus den Angeln heben möchte.
Tangenten an den Kreis der Ewigkeit
Heute haben die meisten Menschen das ständige Gefühl, eine neue Zeit sei angebrochen. Digitalisierung. Alles geht rasanter, die Welt dreht sich schneller, alle sind im Stress, müssen hierhin und dorthin und posten und mailen und twittern und simsen und schauen, dass sie nicht auf der Strecke bleiben. Das Lebenstempo steigt und steigt durch die vom Menschen selbst für den Menschen geschaffenen Technologien, die Anforderungen wachsen. Nicht jeder kann da mit.
In hundert Jahren wird das Leben auf Erden noch einmal ganz anders aussehen. Laut dem Visionär Yuval Noah Harari könnten biotechnologische Innovationen bald eine neue Spezies entstehen lassen oder den alten Homo sapiens einem neuen Totalitarismus unterwerfen.
Diese düsteren Visionen sind mehr als Spekulationen. Wir sehen es am Beispiel China, wo gerade ein durch Hightech gesteuerter, totalitärer Staat entsteht, der seine Bürger anhand eines sozialen Punktesystems klassifiziert. Wer einmal auf der gesellschaftlichen Leiter abrutscht, kann nie wieder aufsteigen. Er verliert seinen Job, seine Wohnung, die Kinder dürfen keine gute Schule mehr besuchen, der Mensch wird zur Persona non grata.
Oder wird sich der neue Mensch mit Chips, Brain-Interfaces und Implantaten optimieren, um mit der Rasanz der Digitalisierung überhaupt mithalten zu können?
Das Rad des Zeitschicksals dreht sich weiter, und wir müssen alle entscheiden, ob wir uns von dem Strudel mitreißen lassen oder unseren eigenen Weg im Mahlstrom