Die Anatomie des Schicksals. Johannes Huber

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Die Anatomie des Schicksals - Johannes Huber

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ist, als würde das Schicksal uns Scheuklappen anlegen und sagen: Was links und rechts ist, braucht dich nicht zu interessieren, du kannst mir nicht entkommen. Deswegen werden furchtbare persönliche Schicksalsschläge auch heute noch mit einer griechischen Tragödie verglichen.

      Ähnlich bei Odysseus. Die düstere Vorhersage lautete: »Wenn deine Krieger die heiligen Kühe des Gottes sowieso schlachten, dann wirst du nur alleine und unter großen Opfern wieder Hellas erreichen.« Und prompt, so war es. Odysseus‘ Krieger haben sich zwar redlich bemüht, die Kühe nicht zu schlachten, aber sie waren auf der Insel des Sonnengottes Helios gestrandet und hatten so einen furchtbaren Hunger, dass die Rindviecher letzten Endes dran glauben mussten. Während Odysseus schlief, ging die Vorsehung in Erfüllung.

      Es war nicht anders möglich, so war die alte, antiquierte Definition. Es geht nicht anders. Was kommen soll, kommt. Von oben. Egal, was du tust. Du kannst rennen in deinem Hamsterrad, zappeln in deinem Käfig oder meditieren für bessere Tage. Tja, Pech, das Drehbuch ist längst geschrieben.

      Auch bei der Odyssee geschah alles wie vorhergesagt. Ein vom zornigen Zeus losgesandter Orkan zerstört sein Schiff, Odysseus strandet bei Kalypso und wird für sieben Jahre ihr Geliebter, weshalb er sehr stark verzögert nach Hause kommt. Weil er so lang weg war, hat seine Frau Penelope ihn für tot gehalten und, als er wieder erscheint, auch nicht gleich erkannt. Um sie herum hat sich ein Schwarm von Freiern angesammelt, die er alle tötet. In Hollywood wäre das der Showdown vor dem Happy End. Hier nicht. Odysseus herrscht wieder auf Ithaka und stirbt schließlich, weil einer seiner Söhne, Telegonos, ihn nicht als seinen Vater erkennt und im Streit mit einem Speer aufspießt. Typisch griechische Tragödie.

      Du kannst in den Trojanischen Krieg ziehen, zehn Jahre auf Irrfahrt gehen, gegen einen menschenfressenden Riesen kämpfen, dir von singenden Sirenen den Kopf verdrehen lassen, dich mit Todesqualen und blutdurstigen Seelen in der Unterwelt herumschlagen, aber das Schicksal holt dich ein. Es holt dich immer ein. Das ist die Botschaft.

      Weise Frauen

      Doch schon in der Antike gab es eben auch einen anderen Blickwinkel.

      Eine Perspektive sind die Moiren, drei Frauen, fürs Schicksal zuständig. Obwohl die wirklichen Götter allesamt Männer waren, waren die Schicksalsgöttinnen immer Frauen. Sie vereinen Geburt und Tod.

      Es wird in diesem Buch noch viel von der Geburt, von der Schwangerschaft, von der Zeit vor der Schwangerschaft und von der Schicksalhaftigkeit dieser Lebensphase die Rede sein. In den Moiren ist sie schon vorweggenommen.

      Die drei Moiren bestimmen über unser aller Leben. Klotho, die Spinnerin. Sie ist es, die unseren Lebensfaden spinnt. Lachesis, die Zuteilerin, misst diesen Lebensfaden und teilt das Lebenslos zu. Atropos, die Unerbittliche, schneidet den Lebensfaden ab.

      Die ihnen zugeteilten Attribute sind die Spindel, das goldene Messer und eine Wasserschale, aus der die Zukunft gelesen werden kann. Spannend, die weibliche Weitsicht. Klotho als Jungfrau, Lachesis als Mutter, Atropos als alte Frau. Man hat das Schicksal damals schon gegendert.

      Das ewig Weibliche zieht uns nicht zuletzt deswegen an, weil es mit der Entstehung des Lebens und daher mit der Entstehung des Schicksals verbunden ist. Leben und Schicksal sind Synonyme.

      Die Götter sind in der griechischen Mythologie dem Wirken der Moiren unterworfen, sie haben keine Gewalt über die Schicksalsfrauen. Selbst Zeus, der Göttervater, kann nicht hineinpfuschen und keine ihrer Entscheidungen widerrufen.

      Die Kernaussage ist: Die Moiren sind immer lebenswegzeichnend. Sie bestimmen das Schicksal. Aber – es ist nicht unausweichlich. Kommt ein Mensch dem Tod vor seiner ihm bestimmten Zeit sehr nahe oder plant er Dinge, die mit seinem oder dem Schicksal anderer nicht übereinstimmen, können ihm die Moiren warnende Gedanken schicken.

      Wir hören dieses: Obacht! Wir sagen »innere Stimme« dazu oder Gewissen. Der Stimme des Herzens zu folgen, ist in diesem Sinne existenziell wichtig. Wer dagegen handelt, verschuldet möglicherweise sein weiteres Schicksal selbst.

      Mit dem Segen der Moiren können Menschen ihr Schicksal beeinflussen. Und zum Guten wenden. Darum arbeiten die drei eng mit Nemesis, der Göttin des gerechten Zorns, der Vergeltung, zusammen. Und mit Aidos, der Göttin des Gewissens.

      Auch die Mutter schickt warnende Gedanken, das ist ebenfalls nicht uninteressant. Und mit diesen Gedanken, hat man sich vorgestellt, kann man möglicherweise in das Schicksal eingreifen. Die Warnung mag nicht direkt in den Geist fahren wie eine Erleuchtung oder ein Download aufs Handy. Es genügt ein leises Gefühl, dass da etwas nicht richtig ist. Irgendetwas stimmt nicht.

      Zwei Aspekte ziehen sich bildhaft bis in die Moderne: die Nemesis, der Zorn, und Aidos, das Gewissen. Mit beiden agiert der Mensch. Er schneidet sich möglicherweise selber den Lebensfaden ab, im Zorn. Einhalt gebietet nur das Gewissen, das empfiehlt, nicht blind loszupreschen, sondern ein paar Schritte zurückzutreten oder innezuhalten.

      Das Schicksal bereitet sich vor, es ist ein longitudinaler Prozess, und die Gedanken spielen eine enorm wichtige Rolle dabei, denn aus den Gedanken kommen die Taten, im schlimmsten Fall sogar die Schicksalsschläge und Katastrophen. Unsere Gedanken, um die es in diesem Buch auch noch ausführlich gehen wird, können der rote Teppich sein, auf dem das Schicksal in unser Leben stolziert. Sein Beginn ist oft nichts anderes als etwas Gedachtes, nichts als Energie.

      Die Botschaft ans Universum, könnte man sagen. Sie kommt an wie eine E-Mail an den lieben Gott.

      Gute Politik, schlechte Politik

      Schicksalhaft ist es aber zum Beispiel auch, in welchem Staatsgefüge wir leben. Ist es ein guter, sozialer, gerechter, ein lebenswerter Staat oder das Gegenteil davon? Ein höchst moderner Aspekt, aber bereits das älteste Epos der Welt widmete sich ihm. Ein 4.000 Jahre alter Text, geschrieben auf Sumerisch. Entdeckt wurden die Tafeln im heutigen Irak. Das älteste Epos der Menschheitsgeschichte. Das Gilgamesch-Epos.

      Im Gilgamesch-Epos, das übrigens bereits etwas thematisiert, was derzeit in Silicon Valley Hochkonjunktur hat, nämlich die Relativierung der Todesangst und des Sterbens, war es schicksalhaft, ob man einen guten oder einen schlechten König hatte. Die Politik schwingt immer mit. Das war schon in der Odyssee so und wurde im Rathaus von Siena im zwölften Jahrhundert noch einmal wunderschön als Fresko verewigt: die gute Regierung und die schlechte Regierung. Welche man bekommt, ist auch Frage des Schicksals. Das hat sogar einen gewissen Zeitgeist.

      Es ist schicksalhaft, welchem politischen System wir angehören oder ausgeliefert sind. Zu Platons Zeit war schon die Demokratie in Griechenland eingezogen, vor allem in Athen, die Kultur wurde hochgehalten und über all dem stand sein berühmter Satz: »Jeden Tag danke ich den Göttern, dass ich als Mensch, als Mann, als Grieche und als Bürger Athens geboren wurde.«

      Es hat nach wie vor eine große Bedeutung, in welchem politischen System wir aufwachsen. Nordkorea? Tibet? Berlin? Meidling?

      Im Gilgamesch-Epos, in der Unterwelt, gibt es übrigens auch einen bösen Geist namens Namtaru, der mehr oder weniger alles durcheinanderbringt und auch den guten Herrscher zum bösen macht. Namtaru wirft üble Schicksale auf die Menschen: Sie haben Wasser, aber er bewirkt, dass es nicht trinkbar ist. Sie haben etwas zu essen, aber er bewirkt, dass die Nahrungsmittel ungenießbar werden und alle daran sterben.

      Dazu gibt es eine Analogie in der Gegenwart, in der Wasser kaum mehr trinkbar ist ohne Filter und in der uns viele Nahrungsmittel krank machen, weil sie mit zu viel Salz und Zucker versetzt und geschmacksverstärkt sind. Namtaru wäre heute Lebensmittelchemiker.

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