Der holistische Mensch. Johannes Huber
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Man muss nicht zum Agenten der Sittlichkeit werden, wenn man angesichts der neuronalen Vernetzung im Koitus mehr sieht als nur eine Möglichkeit, 300 Kalorien zu verbrauchen und sein kurzfristiges Verlangen zu stillen.
Wir können die Fantasie der Jugendlichen wirklich anders anregen, als damit, sie einen Puff bauen zu lassen. Wir könnten ihnen die Sexualität einmal von einer völlig anderen Perspektive aus zeigen. Nämlich als einen enormen Akt zwischen zwei Menschen, bei dem im Gehirn ein Tsunami abgeht. Und die Geschlechtsorgane sind so etwas wie Vorposten des Gehirns.
Aufklärung ist nicht nur eine Darstellung von Penisgrößen und Vaginatiefen in allen Konstellationen.
Mir ist das ein Anliegen. Besonders im Hinblick auf das, womit ich als Arzt täglich in unserer Klinik zu tun habe. Dort begegnen wir den Opfern einer egozentrischen Sexualität, wie sie derzeit gang und gäbe ist. Vom Missbrauch ganz zu schweigen. Mädchen, die aufhören zu menstruieren. Die aufhören zu essen und anorektisch werden, um irgendeinem Ideal zu entsprechen.
Toleranz darf nicht zu etwas werden, das nicht mehr zu tolerieren ist.
Das Mächtigste auf der Welt soll die Liebe sein. Omnia vincit amor. Die Liebe besiegt alles. Behalten wir doch vor allem diesen einfachen Wahlspruch der Minnesänger im Herzen.
Die Ära der hormonellen Innenpolitik
Willkommen in einer der spannendsten Zeiten der Medizin. Wir befinden uns in der Welt des Holismus und betreten fast täglich Neuland. Die Forschung überrascht uns, die Zusammenhänge beeindrucken uns. Gängige Abläufe werden mit Aha-Effekten gespickt. Bekannte Stoffe zeigen sich von bisher völlig unbekannten Seiten. Es ist, als säßen wir in einem immer dichter werdenden Spinnennetz, in dem mit jeder Erkenntnis ein neuer Faden erscheint. Die Vernetzung lässt uns keine Pause beim Staunen.
Nehmen wir an, wir könnten am Stand der Dinge einmal kurz innehalten und zur Abwechslung nicht nach vorn, sondern zurückschauen. Zu den Anfängen. Gab es überhaupt einen Anfang? Wann hat sie begonnen, die Vernetzung des Menschen?
Wenn wir die Evolution nach dem entscheidenden Moment absuchen, stoßen wir auf eine große Geschichte, die sich Mutter Natur etwa vor 150 Millionen Jahren ausgedacht hat. Mit ihr ist der erste Tag einer neuen Zeit angebrochen. Es ist sozusagen die Guten-Morgen-Geschichte für die Spezies der Säuger. So sind sie entstanden, und als Prachtstück in dieser Reihe, als Krönung der Gattung, ist der Mensch aus ihr hervorgegangen.
Die Geschichte beginnt mit einer mutigen Eizelle, der ein Experiment gelang, das eine radikale Umgestaltung des weiblichen Körpers bewirkte. Ein Schmetterlingseffekt, da haben wir ihn wieder. Ein Schmetterlingseffekt von unermesslichem Ausmaß. Da muss ein Falter mit einer sagenhaften Flügelspannweite aufgeflattert sein.
Die mutige Eizelle lebte in einer Zeit, da die Fortpflanzung es nicht in die Top Ten der reizvollsten Freizeitbeschäftigungen geschafft hätte. Sex war nicht besonders aufregend. Genauer gesagt: Oft genug war es gar kein Sex, was vor Millionen von Jahren für Reproduktion sorgte.
Lebewesen haben sich vermehrt, wie sie alles andere auch gemacht haben. Fressen, kämpfen, flüchten, schlafen, fortpflanzen, was eben gerade anstand. Emotionslos, pragmatisch, gehorsam. Weil es in den Genen so eingetragen war. Irgendwie stand es so auf dem Stundenplan, damals in den evolutionär so umstürzlerischen Tagen der Kreidezeit.
Ursprünglich mussten nicht einmal zwei Organismen an diesem Nicht-Sex beteiligt sein. Das Weibchen produzierte ganz für sich ihre Eier und deponierte sie im Stillen. Irgendwo an einem geschützten Ort machte sie ein Häufchen aus ihnen, und das war’s. In manchen Fällen wurden sie von der Sonne bebrütet. In anderen vom Muttertier. Oder auch gar nicht.
Waren doch zwei Lebewesen zuständig, brauchten sie sich überhaupt nicht zu kennen. Sie mussten sich niemals begegnet sein, sie mussten einander nicht einmal gesehen haben, geschweige denn berührt. Viele Fischarten zum Beispiel halten für die Befruchtung nicht einmal inne, sie erledigen das heute noch im Vorbeigleiten. Das Weibchen setzt an irgendeiner Wasserpflanze ihren Laich ab. Darauf, wer das letzten Endes ist, der da des Weges daherschwimmt und seine Spermawolke darüber ablässt, kommt es ihr nicht so an.
Ähnlich ist es bei den Reptilien und allerlei Federvieh. Sympathie ist kein Kriterium bei der Vermehrung. Erst recht keine Leidenschaft. Wäre das heute auch bei den Säugern, wie ja letztlich der Homo sapiens einer ist, noch so, hätten wir eher einen Orgasmus, wenn uns jemand ein Hühnerauge entfernt. Irgendwas dürfte selbst der Natur dabei gefehlt haben. Vielleicht hatte sie auch nur zu viel Energie, möglicherweise sehnte sie sich nach ein bisschen Liebe. Oder ihr war fad, weil alles so gut im Laufen war, und sie wollte einfach nur herumprobieren. Jedenfalls beschloss sie, dass das so nicht weitergehen konnte.
Wenn die Fortpflanzung das zentrale Lebensziel war, könnte sie doch auch mit ein wenig mehr Verve betrieben werden. Sex könnte Spaß machen, das war nicht verwerflich. Im Gegenteil, ein Ansatz von Romantik sollte der Reproduktion dienlich sein. Mutter Natur brütete eine Zeitlang über dieser Idee, und irgendwie könnte genau dieses Brüten sie inspiriert haben. Denn heraus kam: Wir verlegen das Brüten einfach in den Körper.
Ab jetzt, dachte die Natur, wird in einer gemeinsamen, lustbringenden Aktion befruchtet, das nennen wir Koitus, und dann reift der Nachwuchs innen heran, im weiblichen Organismus, den nennen wir Eva.
Der Gedanke war revolutionär. Bisher waren es die Eier, die den Körper eines Lebewesens verließen, um außen ausgebrütet zu werden. Eine Indoor-Variante war reine Science Fiction. Junge, die im Körper der Mutter reiften und erst ans Tageslicht kamen, wenn sie einigermaßen fertig waren, das war genial. Gewagt, keine Frage, aber grandios.
Und es war machbar, da war sich die Natur sicher. Es gab ein paar Probleme zu lösen, das schon. Aber im Problemlösen war die Natur immer ein Ass. Sie setzte sich in die Abenddämmerung, kaute an einem Grashalm herum und dachte die Sache durch.
Genau da passierte etwas, das quasi den Startschuss zur Reproduktion im Inneren gab. Eine Eizelle ging ein Experiment ein.
Es war eine ausgesprochen mutige kleine Eizelle. Ein paar Viren, die damals schon überall vorhanden waren, hatten sie aufs Korn genommen und schlichen sich in sie ein. Normalerweise versucht der Wirt, solche Viren sofort zu deaktivieren. Feind, Gefahr, Zerstörung, das Gesetz des Überlebens.
Aber diese Eizelle tat nichts dergleichen. Sie rührte sich nicht, rief niemanden um Hilfe. Ließ keinen Piep zum Immunsystem vordringen. Sie entschied, die Viren in sich arbeiten zu lassen.
Was immer ihr dabei eingefallen ist, der Effekt war vorerst verheerend. Es entstand eine krebsartige Geschwulst, also von vornherein einmal nichts Gutes. Die Viren hatten freie Hand. Ungehindert bildete sich neues Gewebe, das wuchs und wuchs und war zunächst nicht zu stoppen. Irgendwann hielt es dann inne, und aus dem bösartigen Virusbefall ist der Mutterkuchen geworden.
Die Plazenta war entstanden. Ein Blutschwamm. Nichts Ansehnliches, aber in der Lage, mit sehr vielen Blutgefäßen in das weibliche Individuum hineinzuwachsen. Was sie auch tat.
Mit wenig Sauerstoff auszukommen, sich nicht von Nachbarzellen hemmen zu lassen und den Abwehrkräften des Wirtes zu trotzen, das haben der Mutterkuchen und der Krebs gemeinsam. Deshalb ist die Plazenta etwas wie ein Pseudo-Malignom, sie ist ein Pseudo-Krebs. Erst vor der Geburt stellt er sein Wachstum ein.
Die Viren, die damals am Werk waren, lassen sich nach wie vor identifizieren. Nach 150 Millionen