Der holistische Mensch. Johannes Huber
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In der Forschung wurde diese Eigenschaft des Spermidins längst aufgenommen. Wenn es gelingt, Krebszellen durch Autophagozytose zu entfernen, wäre das die Krönung der Onkologie. Das Forscherteam um Guido Kroemer und Josef Penninger ist gerade dabei.
Schon vom Namen her wird es keine Überraschung sein, dass Spermidin vor allem in der Samenflüssigkeit vorkommt. Wobei das, wenn auch das größte, nicht das einzige Vorkommen im Körper ist. Es muss ja auch den weiblichen Körper fit halten. Außerhalb des Organismus findet es sich in relativ hoher Konzentration in gereiftem Käse, also zum Beispiel Parmesan, oder in Weizenkeimen.
Geballt versteckt sich Spermidin in einem Lebensmittel aus fermentierten Sojabohnen namens Natto, das gleich auch viel Vitamin K2 gegen die Verkalkung enthält. Delikatesse ist es keine. Man muss es schon wirklich ernst meinen mit der Zellräumung, sonst bringt man es nur schwer runter.
Wie das Oxytocin ist Spermidin ein Stoff, der seit Hunderten Millionen von Jahren in der Natur vorkommt und schon in der Pflanzenwelt seine Warmherzigkeit beweist. Bei einem Kälteeinbruch beginnt die Pflanze, Spermidin freizusetzen, um sich damit warmzuhalten. Spermidin ist also auch ein Frostschutzmittel.
Eine Gruppe Wissenschaftler an der Grazer Universität, die auf dem Gebiet der Alterung und des Zelltods forscht, ist in der Arbeit mit Spermidin weltweit federführend. Frank Madeo und sein Team haben seit dem Jahr 2009 diese den Alterungsprozess verlangsamende Wirkung an unterschiedlichen Tieren getestet. Seit 2016 wird auch schon an Menschen ausprobiert, ob sie Spermidin in hohen Dosen vertragen.
Den Schluss zu ziehen, dass der Geschlechtsverkehr Krankheiten heilt, ist selbst holistisch gesehen ein bisschen zu optimistisch. Als Therapie kann man ihn vielleicht nicht ans Herz legen, als präventiv und gesundheitsfördernd schon.
Das Schauspiel, dem wir als Publikum im eigenen Ich beigewohnt haben, hätte noch viele Akte. Über die menschliche Sexualität als bloßen akrobatischen Akt ist allerdings der Vorhang gefallen. Der Holismus hat sich tief vor uns verbeugt, ich applaudiere ihm gern.
Hoffentlich konnten wir ein bisschen wiedergutmachen, was Peter Sloterdijk von den Gynäkologen sagt:
»Die rennen mit Organbezeichnungen und Straßenschuhen durchs Fraueninnere wie Touristen von weither durch orientalische Etablissements, geblendet von ihren gebuchten Interessen.«
Die Sexualität, das begreift man immer mehr, ist ein Netz, das sich durch den gesamten Körper spannt. Sie ist ein evolutionäres Feuerwerk, das an vielen Stellen gleichzeitig gezündet wird und allerorten Funken schlägt.
Gleichzeitig wird Sexualität seit jeher immer wieder missverstanden und missverständlich an die Jugendlichen weitergegeben. In so gut wie allen Religionen, leider auch im Christentum, gibt es Tendenzen, dogmatisch eine einzige Form von Liebe zu propagieren und alles andere buchstäblich zu verteufeln. Und den Teufel will man ja beim besten Willen nicht im Bett haben. Die Rolle der Frau wurde und wird leider immer noch oft einseitig gesehen. Als unterworfene Gebärerin oder Lustobjekt. Das ist aus medizinischer, menschlicher und holistischer Sicht erschreckend, unmöglich, falsch. Und über Kondom-Verbote kann ich als Mediziner nur staunen.
Wie wir gesehen haben, braucht die Welt beide, Frau und Mann, um das Leben zu erhalten. Für beide hat die Natur auf teils unterschiedliche, teils gleiche Art gesorgt. Die Evolution hat alle Voraussetzungen geschaffen, dass Frau und Mann glücklich werden. In Peter Sloterdijks neuem Roman Das Schelling-Projekt versuchen vier Wissenschaftler nachzuweisen, dass der weibliche Orgasmus sogar das Ziel der Evolution gewesen ist. Nicht schlecht. Die Lust ist wichtig. Und das Glück ebenso.
Natürlich hat die Natur ganz offensichtlich auch dafür gesorgt, dass auch homosexuelle Beziehungen funktionieren, obwohl sie nicht der Vermehrung dienen. Die Evolution leistet sich und uns eben einen gewissen Luxus. Auch die heterosexuelle Liebe ist nicht allein auf Reproduktion ausgelegt, das wäre langweilig.
Allerdings schießt die Opposition gegen patriarchale Dogmen, für die sich der bösartige Begriff »Heteronormativität« eingebürgert hat, oft übers Ziel hinaus. Ich beziehe mich da auf das Buch Sexualpädagogik der Vielfalt von Elisabeth Tuider und Stefan Timmermanns aus dem Jahr 2008. Es entstand als Standardwerk der deutschen Gesellschaft für Sexualpädagogik, die sich als Fachverband zur Qualitätssicherung sexualpädagogischer Arbeit versteht. Das Buch musste schon einige Kritik einstecken, insbesondere seit seiner zweiten Auflage 2012. Es hatte es nämlich in vielen deutschen Bundesländern in den Schulunterricht geschafft, da es Anleitungen zu aufklärerischen Übungen für Schüler beinhaltet.
Dieses Buch macht es sich zur Aufgabe, Kinder ab zehn Jahren über Sexualität aufzuklären, und zwar über jede Form der Sexualität. Die Kinder sollen zu Toleranz gegenüber Homo-, Bi- und Transsexuellen erzogen werden. Allein schon dieses Vorhaben, das per se nicht schlecht ist, stößt natürlich schon auf aggressive Kritik der extremen Rechten.
Doch dieses Buch ist so extrem, dass es unter anderem vom Verein Zartbitter kritisiert wurde, der sich gegen Kindesmissbrauch einsetzt. Die Anleitungen führen dazu, dass die Kinder verwirrt werden, ihre Hemmungen verlieren und für Pädophile zu leichten Opfern werden. Und das unter dem Deckmantel der Erziehung zur Toleranz.
Ich fasse mich kurz. Den im Buch vorgeschlagenen Übungen zufolge sollen die Kinder über ihre Lieblingsstellungen reden. Sie sollen lernen, dass der Penis auch woanders hineingesteckt werden kann als in die Vagina. Sie sollen verschiedene Gegenstände, vom Ehering über die Bibel bis zu Sexspielzeug aller Art, für die Bewohner eines Hauses ersteigern, in dem alle Arten von Lebensgemeinschaften vertreten sind außer einem heterosexuellen Paar mit Kindern. Ein »Puff« soll erdacht werden, in dem alle gleichermaßen zufriedengestellt werden sollen, mit Gang Bang, Spermaschlucken und so fort. »Verbotene Sexpraktiken« sollen durchdacht werden, indem sich die Kinder in Außerirdische hineinversetzen, für die die Normen der Erde nicht gelten.
So etwas ist tatsächlich Beihilfe zum Kindesmissbrauch. Dass traditionell-religiöse Gegenstände wie die Bibel auf dieselbe Stufe wie ein Dildo gestellt werden, ist in dem Fall das geringste Problem. Wer das für Aufklärung hält, schießt über sein Ziel hinaus und legt eine übertriebene Toleranz an den Tag. Und das befeuert wiederum die erzkonservativen Gruppen unserer Gesellschaft, die alles verteufeln, was nicht ihren Vorstellungen entspricht.
Dabei ließe sich zum Beispiel die Homosexualität ohne weiteres als eine vollkommen akzeptable Normvariante erklären, ohne dass gleich im selben Atemzug von Bordellen die Rede ist, die Gewalt implizieren.
Und ich habe auch etwas dagegen, dass Kindern und Jugendlichen eine Sexualität vermittelt wird, die so an dem vorbeigeht, was die Evolution hervorgebracht hat. Wenn jemand unbedingt das nachmachen will, was er in Pornos sieht und dafür eine Partnerin oder einen Partner findet, der das freiwillig mitmacht, dann bitte. Aber deswegen muss das noch lange nicht zur Norm erhoben werden. Lust am Geschlechtsverkehr ist wichtig, aber die Lust ist nicht alles. Ausgerechnet Kinder müssen nicht mit allem verwirrt werden, was es auf der Welt gibt.
Es gibt so etwas wie die Verfassung der Evolution. Und diese Verfassung ist zu akzeptieren.
Bedenken wir das große holistische Konzept, das die Evolution um die Reproduktion des derzeit höchsten Säugers gespannt hat. Betrachten wir es mit allen Vernetzungen, die bis ins Gehirn und die Psyche hineinreichen. Dann wird einem mulmig, wenn die seit der Aufklärung umworbene ethische Selbstbestimmung des Menschen derart radikal aufgefasst wird. Wenn die Konzepte einer neuen Gesellschaft, in der alles erlaubt sein soll, was vielleicht Spaß machen könnte, die Vorgaben der Evolution ausblenden und im selben Atemzug von Menschenrechten, Fortschritt, Freiheit und Verfassung reden. So wie ich das sehe, sind Menschenrechte, Fortschritt und Freiheit