Der holistische Mensch. Johannes Huber
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Alles Schöne hat aber auch seine Schattenseiten. So hat etwa Carsten De Dreu die Frage aufgeworfen, ob das Oxytocin neben seiner Tätigkeit als »Moralhormon« nicht zugleich im Auftrag des Gegenteils der Moral unterwegs ist. Es hebt nämlich das Vertrauen und die Ergebenheit vor allem der eigenen Gruppe gegenüber. Das könnte umgekehrt zu einer ähnlichen Wirkung führen, die auch das Vasopressin hat. Zu einer Feindseligkeit gegen alle möglichen Eindringlinge. Fremdenhass und Neid könnten also auch mit dem Oxytocin assoziiert sein.
Am höchsten steigt der Oxytocinspiegel im Menschen trotzdem beim Geschlechtsverkehr. Lange Zeit war das nur eine Hypothese, weil die Ausschüttung in der Hitze des Liebesaktes schwer zu überprüfen ist. Auch danach bleibt nicht sonderlich viel Gelegenheit. Oxytocin hat nur eine kurze Halbwertszeit von drei Minuten. Will man messen, wie hoch der Spiegel gerade ist, muss man sich tummeln.
Wolfgang Knogler und meiner Gruppe ist es gelungen. Wir haben das Oxytocin an unserer Klinik an seinem Höchststand gemessen. Innerhalb von 180 Sekunden nach dem Orgasmus haben wir Blut abgenommen, es zentrifugiert und sofort tiefgefroren. Vor 15 Jahren ging das um die Welt.
So eine Dosis triggert dann im Körper eine wahre Kaskade der positiven Gefühle und gesunder Mechanismen. Der Geschlechtsverkehr kann sogar den Eisprung auslösen. Die Frau hat mit einem Mann einen Orgasmus und wird schwanger. Hört man immer wieder.
Was man weithin aber noch nicht gehört hat:
Das Oxytocin ist nicht nur in der Lage, neue Neurone zu bilden, sondern auch das Herz zu stärken, zu regenerieren und neues Muskelgewebe zu bauen. Das Hormon ist also auch eine Art Herzmittel.
In jüngster Zeit gab es schon Versuche, ein krankes Herz mit pharmazeutischer Anwendung von Oxytocin zu behandeln.
Überhaupt forscht die Medizin auf diesem Gebiet nach Kräften. Bevor etwas publiziert wird, wird schon das Patent angemeldet. Es ist verblüffend, wie viele Oxytocin-Patente es in der Kardiologie gibt.
Um dem Herzen unter die Arterien zu greifen, hat das Oxytocin noch einen eifrigen Helfer. Das Stickmonoxid, das die Blutgefäße erweitert. Es wird auch freigesetzt, um die Erektion auszulösen.
Kann der Körper es selbst nicht mehr herstellen, setzt die Medizin Nitroglycerin ein, das das Stickmonoxid im Körper abgibt.
So nebenbei ist der Forschung auf diesem Gebiet übrigens etwas Seltsames passiert. Ein Biochemiker war vor zwanzig Jahren auf der Suche nach einem Mittel, das mit einer Nitroverbindung die Blutgefäße erweitern könnte. Wenn die Gefäße auseinandergehen, so seine Überlegung, müsste sich gleichzeitig auch der Blutdruck senken lassen. Er behielt Recht. Tatsächlich sank der Blutdruck. Mit dem Wissen ging man in klinische Studien und wollte das Präparat schon anmelden, da kamen unerwartete Rückmeldungen von den Testpersonen. Männer, die das Mittel genommen hatten, bekamen zum niedrigeren Blutdruck eine Dauererektion. Das war die Geburtsstunde von Viagra.
Auch der Geschlechtsverkehr senkt den Blutdruck.
Dritter Akt: die Verjüngung.
Es ist ein Ein-Personen-Stück, sein Hauptdarsteller: das Spermidin.
Kurzinhalt: Um sich für die Reproduktion jung und fit zu halten, ist der Körper in der Lage, sich selbst ab und zu aufzuessen.
Nach dem Liebesakt schauen Menschen aus, als hätte sie die Natur gerade frisch gestrichen. In der Schwangerschaft wirken Frauen, als wären sie von innen her aufgestrahlt. Die Reproduktion ist besser als jeder Schönheitssalon.
Die schnöde äußerliche Schönheit ist dabei allerdings nicht die einzige Absicht der Natur gewesen. Schönheit ist ein Magnet, der den einen Partner für den anderen attraktiv macht, das schon. Aber das allein genügt der Natur nicht. So eitel ist sie nicht. Sie hat immer einen praktischen Grund für alles, was sie tut. Immer steckt ein tieferer Sinn dahinter. Immer eine holistische Gesamtsicht. Sie macht nichts nur für den Schein. Sie macht alles für das Sein.
Schönheit allein hat keinen richtigen Nutzen. Die Verjüngung schon. Um die Art zu erhalten, braucht es gesunde, junge, starke Lebewesen, das ist beim Homo sapiens nicht anders.
Nun hat der Mensch aber auch seine guten und schlechten Phasen, und ab einem gewissen Alter ist er zwar noch fähig, sich fortzupflanzen, aber nicht mehr ganz so gesund, ganz so jung und ganz so stark, wie es die Natur sich vorstellt. Also hilft sie nach. Ihr vorderster Komplize dabei ist ein ganz junger holistischer Mitkämpfer: das Spermidin.
Einmal ganz unmedizinisch porträtiert, ist das Spermidin eine Art Fitnesscoach der Geschlechtspartner. Ein Verjüngungs-Elixier. Ein automatischer Rundumerneuerer des menschlichen Organismus. Die Sprinkleranlage eines inneren Jungbrunnens.
Warum die Natur dieses körpereigene Wellnessstudio eingerichtet hat, ist leicht zu erahnen. Es dient wieder einmal dem Nachwuchs. Mann und Frau sollen so lang wie möglich nicht nur beisammen, sondern auch am Leben sein, wenn sie ein Kind zeugen, in die Welt setzen und aufziehen.
Vor allem dem weiblichen Organismus verlangt die Fortpflanzung viel ab. Das gesamte Organsystem ist beeinflusst, Herz, Stoffwechsel, Immunsystem. Und doch ist sie selbst nach mehreren Geburten oft fitter als der Mann. Unter anderem dank Spermidin.
Der Mann soll aus anderen Gründen kein Schwächling sein. Ihm hat die Natur die Rolle des Beschützers zugeteilt, da hatte sie keinen lahmen Gaul im Sinn. Sie füttert ihn mit Vasopressin, damit er die Familie verteidigt. Und auch ihn hält das Spermidin jung.
Als Fitnesstrainer ist das Spermidin kein Schinder. Es traktiert den Körper nicht, damit er sich abrackert. Spermidin arbeitet völlig selbständig. Es erledigt die ganze Arbeit ohne Hilfe, still und effektiv.
Spermidin hilft von innen heraus. Von ganz innen. Es hält die Zellen sauber und arbeitstüchtig. Es organisiert die innere Müllabfuhr, die alles abtransportiert, was alt, verbraucht, zu viel oder zu schlecht ist.
In Stockholm war das im Jahr 2016 den Nobelpreis für Medizin wert. Yoshinori Ohsumi, der das Phänomen entdeckt hatte, gab dieser Erscheinung den Namen Autophagozytose oder einfach Autophagie. Es ist die Fähigkeit des Körpers, sich ab und zu selbst aufzuessen. Genau das ist die Übersetzung von Autophagie. Sich selbst fressen. Und Autophagozytose bedeutet, seine eigenen Zellen zu fressen.
Was passiert nun, wenn der Körper seine kannibalischen Gelüste an sich selbst stillt? Vor allem: Warum hält so etwas fit?
Der Appetit beschränkt sich auf Dinge, die weg gehören, um Neues entstehen zu lassen. Ähnlich wie in der Industrie werden alte Bestandteile eingeschmolzen und daraus neue Bestandteile gemacht. Aus einem alten Auto wird zum Beispiel das Material für eine neue Kühlerhaube entnommen. In der Biochemie nennt sich das Homogenisieren. Der Vorgang ist höchst regenerativ.
Die Erneuerung wird von verschiedenen Substanzen aktiviert. Die eifrigste davon ist das Spermidin. Es knabbert das Unnötige weg, putzt den Kehricht zusammen und fegt die Zellen aus, bis aller Schrott draußen ist. Dann macht es aus dem Abfall etwas Neues. Es klingt wie Zauberei und passiert in unserem Inneren.
Eine zweite Möglichkeit zur Autophagie entsteht durch Kalorienrestriktion. Das Prinzip ist dasselbe. In dem Moment, in dem der Körper nichts zu essen hat, beginnt er, sich vor dem Hungertod zu schützen. Dazu frisst er alle alten Materialien auf, die er nicht mehr braucht, und wandelt sie zu Energie um,